Stationen einer Wandlung - Von der Therapiegruppe zur «Sekte» (Sträuli, 2006)

Der folgende Text beschreibt eine fiktive Therapiegruppe. Er ist in Details von realen Einzelfällen inspiriert. Der geschilderte Ablauf erhebt keinen Anspruch auf wissenschaftliche Stringenz; er will zum Denken anregen. (1)

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von Dieter Sträuli


In der Therapiegruppe von Dr. S. ...

... wird intensiv gearbeitet. Die meisten Mitglieder freuen sich auf die wöchentlichen Sitzungen. Sie erzählen, sie hätten jedes Mal auf dem Heimweg von der Therapie das Gefühl, etwas Wertvolles mitzunehmen: eine Einsicht, einen kleinen Schritt, die Lösung eines Problems. Auch Dr. S. ist zufrieden und spart nicht mit Lob über «seine» Gruppe.
Dr. S. ist kein Guru und will auch keiner sein. Vielleicht ist es der Erfolg der Therapiegruppe, der für die folgende Entwicklung mitverantwortlich ist.


Die Zeit, die sich die Gruppe für den Therapieprozess gesetzt hat, ist abgelaufen. In einer letzten Sitzung spricht man über den bevorstehenden Abschied, der den Teilnehmern schwer fällt. Ein Teilnehmer bringt einen spontanen Vorschlag ein. Warum sich nicht weiterhin treffen – als Freundeskreis? So viele interessante Themen seien nicht wirklich zu Ende diskutiert worden. Die Gruppe ist erleichtert über die gemeinsame Perspektive, lässt die endgültige Entscheidung aber noch offen und verabredet sich zu einer Art Stammtisch. Drei der bisher elf Mitglieder erklären, sie hätten genug und wollten eine Pause. 
Die therapeutische Ethik verbietet nicht, dass die Beteiligten nach dem Ende einer Therapie weiter miteinander verkehren. Aber jede Therapie läuft so theoretisch Gefahr, zur unendlichen Therapie zu werden und therapeutische Ziele und Anforderungen mit persönlichen Aspekten einer Lebensgemeinschaft zu vermischen.

 

 

Inzwischen trifft sich die Gruppe ...

... regelmässig zum Gedankenaustausch. Das ungezwungene Setting bewirkt, dass einzelne Mitglieder freier sprechen können. Es wird viel gelacht. Ein Thema, das immer häufiger wiederkehrt, ist das der Spiritualität. Während der Therapie kam es praktisch nie zur Sprache. Dr. S., der sich nie besonders dafür interessierte, ist zunächst überfordert, holt dann aber aus seinen Erinnerungen Seminare hervor, die er vor Jahren besuchte und die dem Thema gewidmet waren. Er liest sich rasch in die Unterlagen ein und trägt die Überlegungen in der Gruppe vor. Die Gemeinschaft hört seinen Ausführungen fasziniert zu.
Gegen den Einbezug des Themas Spiritualität ist nichts einzuwenden. Da der Therapeut aber Laie auf diesem Gebiet ist, unterschätzt er möglicherweise die starken Dynamiken und Suggestionen, die in diesem Diskurs wirksam sind: der Rückzug von der Alltagswelt und die Konzentration auf innere Prozesse, verbunden mit kosmischen Phantasien.


Eines der Gruppenmitglieder gibt Yogakurse und verfügt über ein Kurslokal. Der weiche Teppich, die vielen Kissen und die gedämpfte Beleuchtung passen besser zur neuen Ausrichtung der Gruppe als die nüchternen Stühle von früher. Kommt dazu, dass die Gymnastiklehrerin das Kurslokal der Gruppe gratis zur Verfügung stellt.

In engagierten Gruppen gilt es als selbstverständlich, dass jedes Mitglied die Gruppe kräftig mit Arbeit und Geld unterstützt. Hier erbringt eine Teilnehmerin Gratisleistungen für die Gemeinschaft. Von anderen Organisationen ist bekannt, dass Mitglieder für den Leiter den Haushalt erledigen, seine Kleider bügeln, ihm ihr Hab und Gut zur Verfügung stellen etc. Dies können erste Schritte in Richtung Ausbeutung bzw. Abhängigkeit der Mitglieder sein. 

In der intimeren Umgebung ...

... hat Dr. S. damit begonnen, jeweils zu Beginn der Sitzung Meditationen zur Einstimmung zu leiten. Danach haben die Mitglieder keine Lust zu diskutieren, also erzählen sie davon, was sie während der Meditation erlebt haben. Dabei tut sich vor allem Rolf hervor, der kosmische Visionen von sich gibt. Er verspürt die besondere Fähigkeit, mit Geistwesen zu kommunizieren und ihre Botschaften der Gruppe zu übermitteln. Dabei geht es nicht nur um Lösungen zu Lebensfragen einzelner Mitglieder, sondern auch um das nahe Schicksal der Welt. Die Rolle, welche die Gruppe in diesen kommenden Ereignissen spielen könnte, ist ebenfalls ein Thema in den Botschaften. Noch nie hörten Menschen Rolf so ehrfürchtig zu. Rolf geniesst die Aufmerksamkeit und läuft zur Höchstform auf.
Die Gruppe bricht, getragen von intensiven Gefühlen und wechselseitiger Bestätigung, in kosmische Sphären auf. Dr. S. verpasst es, sie auf den Boden zurückzuholen.Man muss sich vorstellen, dass eine solche Ausweitung des Wirkungsfeldes von einem starken Schub Grandiosität begleitet ist, der es den Mitgliedern schwer macht, vernünftig und sachlich zu bleiben. «Vernunft» passt nicht zu Rettern und Auserwählten dieser Welt. Die Grandiosität oder Selbstüberschätzung zeigt sich in verschiedenen Problemgruppen. Sie sehen sich als die Avantgarde, die «Speerspitze der Forschung» oder die «Elite des Planeten Erde».

Die Mitglieder tauschen regelmässig Mails aus. Auf diesem Weg zirkulieren auch die visionären Botschaften von Rolf. Jemand kommt auf die Idee, einen e-Newsletter einzurichten, eine Zeitung, die unregelmässig im Internet erscheint und Rolfs Channelbotschaften aus spirituellen Quellen enthält. Die Zeitung braucht einen Namen. Die Gruppe einigt sich auf «Stimme der Neuen Zeit». Da die Texte auch ausserhalb der Gruppe auf Interesse stossen und sich Interessenten mit Fragen und Anregungen an die Gemeinschaft wenden, gewinnt Rolf eine gewisse Bekanntheit. Dr. S. hat sich stets um eine gute Führung der Gruppe bemüht und verbirgt nicht, dass er mit Rolfs neuer Position Mühe hat. Rolf zieht mit seinen Visionen alle Aufmerksamkeit auf sich. Es scheint, dass die Gruppe nun zwei Leiter hat, einen organisatorischen und einen spirituellen.
In der Gruppe gelten jetzt andere Prioritäten, auch die Rollen und Funktionen werden entsprechend neu verteilt. Einige Gruppenmitglieder sehen sich als spirituell fortgeschrittener und scharen sich um Rolf. Früher hätten Mitglieder wie Leiter die Problematik hinter dieser Entwicklung bemerkt – heute geht diese kritische Sichtweise in der allgemeinen Euphorie unter.

Dr. S. realisiert, dass er trotz seiner therapeutischen Ausbildung ...

... und der Auseinandersetzung mit Lebensfragen bestimmte Aspekte seines eigenen Lebens vernachlässigt hat, so beispielsweise die Endlichkeit des Menschen und die Transzendenz. In der Gemeinschaft hat er diese Dimension für sich entdeckt. Um nichts in der Welt möchte er diese neue Erfahrung missen. Auch wenn Rolf der Kanal zu anderen Welten ist: Er, Dr. S., weiss, wie man eine Gruppe führt. Um seine Position in der Gemeinschaft zu stärken, organisiert er ein Wochenende in den Schweizer Voralpen, in einem Meditationszentrum an herrlicher Lage mit Blick auf einen See und mit dem Vortrag eines spirituellen Lehrers aus Indien, der dort gerade auf seiner Durchreise Halt macht. Die Gruppe ist einmal mehr begeistert.
Aus ihm selbst nicht bewussten Motiven heraus – es geht dabei vor allem um die Rivalität mit Rolf – eröffnet Dr. S. der Gruppe einen neuen Zugangsweg zu spirituellen Ideen und Praktiken. Die Gruppe wird so noch stärker das Gefühl haben, Teil einer globalen Bewegung zu sein, und das diffuse Pulsieren des Aufbruchs in ein neues Paradigma spüren.


Die Meditationen von Dr. S. finden immer häufiger statt und dauern immer länger. Während der Meditation verwendet er Formulierungen, die weit über das Induzieren von Entspannung hinausgehen. Er spricht von einem «inneren Führer», den jedes Mitglied entwickeln und dem es blindlings vertrauen solle. Diesen Ansatz hat er aus einem Esoterikbuch übernommen, weil er ihm einleuchtete.
Die Technik des «inneren Führers» erlaubt eine effiziente und verdeckte Gruppenkontrolle. Wir haben alle ein Gewissen, ein zusätzlicher «innerer Führer» ist nicht nötig. Er hat den Zweck, dem individuellen Gewissen ein Gruppengewissen zur Seite zu stellen, das von der Gruppenleitung nach Belieben mit Inhalten gefüllt werden kann. Dr. S ist sich all dessen nicht bewusst.

Die Gruppe durchlebt ihre zweite Umstrukturierung.

Vier Mitglieder verlassen die Gruppe. Drei gehen freiwillig. Sie brauchten immer häufiger Wörter wie «Sekte» oder «sektiererisch». Die Entwicklungen in der Gruppe, die Unmöglichkeit, über die Vorgänge zu sprechen, hinterliess bei ihnen einen sektenhaften Eindruck. Die vierte Person wäre gern geblieben, verhielt sich aber in den Augen der Gruppe seltsam und «störte die Konzentration». Sie wollte eigene Ideen einbringen und regte immer wieder Diskussionen über Reformen an, wollte nur «das Beste» für die Gemeinschaft. Mit diesem Engagement stiess sie aber bei der Gruppe auf taube Ohren. Sie versteht nicht, warum sie nicht mehr in den eigenen Reihen geduldet wird und hat keine Chance gegen das Scherbengericht. Sie wird aus der Gruppe ausgeschlossen. Von einem weiteren Kontakt mit dieser Person wird nun abgeraten. Die Austritte stellen für die Gruppe kein Problem dar, im Gegenteil, sie wächst: Mehrere Mitglieder bringen ihre Lebenspartner und Freunde zu den Sitzungen mit. Noch werden Liebesbeziehungen zu Partnern, die der Gruppe kritisch gegenüberstehen, toleriert. Aber Mitglieder mit kritischen Partnern werden zunehmend ermahnt, sie «müssten sich entscheiden, wo ihre wahren Interessen lägen». Eine Auseinandersetzung mit Aussenstehenden lenke von der Entwicklung ab und störe die Einheit der Gemeinschaft. Kritische Partner seien selber für ihre persönliche Stagnation verantwortlich.
In der Therapiegruppe war es einst ein primäres Ziel gewesen, Konflikte auszutragen und abweichendes Verhalten zu verstehen. Die Auseinandersetzungen in der Gruppe sollten den Mitgliedern helfen, Gruppenziele und eigene Interessen zu unterscheiden und gegeneinander abzuwägen. Das Gelernte sollten sie anschliessend ins Berufs- und Familienleben tragen und dort verwerten können. «Sekte» heisst hingegen ausschliessende Homogenität, «Schwingen auf derselben Ebene», Harmonie. Gruppen mit dieser Struktur wären theoretisch sehr leistungsfähig, wenn ihre Ziele pragmatisch und klar umrissen wären. Bei sektenartigen Gruppen sind die Ziele diffus und z. T. nach innen gerichtet. Die Interessen der Mitglieder werden nicht klar von den Zielen der Leitung unterschieden, sondern im Gegenteil verwischt.
Hier brechen wir die Geschichte ab. Die Gruppe hat noch viele Schritte vor sich, bis sie zu einer «Sekte» geworden ist. Manche davon sind vermeidbar und reversibel, wenn Leitung und Mitglieder sich über die laufenden Gruppenprozesse im Klaren wären.

Als LeserIn ...

... sollte man nicht denken: «Ich habe nichts mit Esoterik am Hut, also bin ich gegen Sektentum gefeit.» Esoterisches Denken fördert zwar die sektenhafte Entwicklung einer Gruppe, ist aber keine unerlässliche Ingredienz dafür. Wichtig ist: Jede Gruppe muss immer wieder Zeit und Energie aufbringen, will sie eine Entwicklung in Richtung Sektenstruktur verhindern. Diese Struktur ist uns allen vertraut und wartet sozusagen darauf, das Zepter zu übernehmen. Sie steuert Gruppenvorgänge auch ausserhalb des bekannten Sektenphänomens, beispielsweise beim Mobbing oder bei der politischen Vorstellung von einem starken Führer, der demokratische Entscheidungsprozesse überflüssig macht. Sektenhaften Entwicklungen muss man aktiv gegensteuern.

Anmerkung

1 Leicht überarbeitete Version. Der Artikel erschien in Psychosocope. Zeitschrift der Föderation der Psychologinnen und Psychologen FSP. 6/2006. Vol. 27.

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