L'Ordre du Temple Solaire OTS: Öffentlicher Informationsnotstand und Alltag in der Sektenberatung (Flammer, 1995)

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von Philipp Flammer


Einleitung

Die Tragödie von Cheiry (FR) und Granges-sur-Salvan (VS) hat die Informationsstelle von infoSekta auf eine harte Probe gestellt. Um 9.30 Uhr an jenem verhängnisvollen 5. Oktober 1994 begann das infoSekta-Telefon heisszulaufen. Die eintreffenden Informationsfetzen, erregt, bestürzt und oft auch sensationslüstern vorgetragen, formten sich bei uns zu einem schrecklichen Bild der Ereignisse: Die Rede war von abgebrannten Häusern, Dutzenden gefesselter und teilweise verkohlter Leichen und vom kollektiven Selbstmord einer Sekte. Fragen von JournalistInnen prasselten auf uns nieder: Ob wir die kennten? ihre Weltanschauung? ihre Verbindungen? Wer dahinter stecke und welche Ziele die verfolgten? Fragen, denen wir ebenso hilflos gegenüberstanden wie die Anrufenden selbst. Namen, detailliertere Berichte und erste Mutmassungen über die Hintergründe begannen erst allmählich zu kursieren. Luc Jouret, ein Arzt und Homöopath, solle ihr Führer heissen; rot-schwarze Roben und Schwerter mit der Inschrift «La Croix et la Rose» seien in einer getarnten Hauskappelle gefunden worden. 

Der Marktwert aktueller und umfassender Informationen zu dieser vorher kaum bekannten Gruppe war sprunghaft gestiegen. Und verständlicherweise war das Bedürfnis nach sofortiger Einordnung und Bewertung der dürftigen Informationen angesichts der Ereignisse übermächtig. Entsprechend gross - und nicht nur bei Medienleuten - war die Verlockung, mit pfannenfertigen Orientierungsrezepten zu hausieren. Selbst für namhafte SektenkennerInnen schien die Sache schnell klar: «kollektiver Verfolgungswahn» einer christlichen Endzeitgemeinde, ganz im Stile des 900fachen Selbstmordes der christlich-fundamentalistischen Volkstempler von 1978 in Guayana oder der rund 70 Toten beim Feuerinferno in Waco 1993 als Folge eines monatelangen «Endkampfes» der adventistischen Davidianer gegen die amerikanische Polizei. Der aktuelle öffentliche Informationsnotstand in Sachen Sonnentempler offenbarte schonungslos mangelnde Übersicht und grosse Unterschiede in der Einschätzung bei den verschiedenen Beobachtern der Sektenszene.

Das Sektenklischee im Medienspektakel

In den folgenden Wochen waren die beiden kleinen Schweizer Weiler Cheiry und Granges-sur-Salvan fest in den Händen der Weltpresse. Fernsehen, Radio und die täglichen Schlagzeilen in den Zeitungen berichteten über die neuesten Erkenntnisse der Polizei, die schrittweise Identifikation der 48 Leichen und die neuesten Vermutungen über den genauen Tathergang. Aus den Medien war immer deutlicher zu entnehmen, dass die Mitglieder dieser Sekte weder Jugendliche noch Ausgeflippte waren, sondern ehrbare Mittelstandsangehörige in guten Positionen: unter anderem ein Bürgermeister, ein Finanzbeamter, ein Verkaufsleiter und eine Reporterin. Sie alle waren offenbar Jouret und seinem Hintermann Di Mambro hörig gewesen. Der ideologische Hintergrund der Gruppe entpuppte sich als eine esoterisch-gnostische Mischung von rosenkreuzerisch-theosophischen Lehren und grössenwahnsinnigen Kreuzrittermythen. Mit dieser Ideologie hatten sich die Führerpersönlichkeiten ein Instrument geschmiedet, um in den Mitgliedern den Glauben an ein Allerheilmittel gegen eine angeblich drohende Apokalypse zu stärken und die Auserwählten in stundenlangen Initiationsritualen und okkulten Messen auf ihren Übertritt in ein neues kosmisches Leben vorzubereiten. Gleichzeitig wurden sie natürlich um Hunderttausende von Franken erleichtert. 

Was jahrelang in geheimen Lesezirkeln, in zahlreichen geschlossenen Vorlesungen und Esoterikseminarien ungestört vorbereitet und aufgebaut worden war, mündete in einer sozialen Katastrophe und wurde nun im grellen Scheinwerferlicht der Medien zum klassischen, ständig wiederholten Beispiel einer Sekte aufgebaut. Das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich die Voraussetzungen zu diesen Ereignissen entwickeln konnten, fand kaum Interesse. So kam es, dass jene Verflechtung von religiösen und psychischen Bedürfnissen, wirtschaftlichen Eigeninteressen und politischen Geltungsansprüchen, die zum Instrument einer machtbesessenen Führerschaft geworden war, einmal mehr der öffentlichen Aufmerksamkeit und Kritik entging. Dem Phänomen der «Sekte» ist aber mit einfachen Kategorisierungen und Schubladisierungen, wie sie über die Sonnentempler in verschiedenen Varianten wieder zu hören waren, so nicht beizukommen. Zu vielgestaltig und verschieden sind die vielen Gruppen, die dieses gesellschaftliche Phänomen ausmachen.

Die Sonnentempler und der Beratungsalltag von infoSekta

Weder die Ereignisse um die Sonnentempler noch der dabei offensichtlich gewordene Informationsnotstand sind in dieser akuten Form Alltag auf der Beratungsstelle infoSekta. Dennoch kann das Bedürfnis nach Information und nach Unterstützung in der Einschätzung einer bestimmten Gruppe für manche der Anfragenden in ähnlicher Weise drängend werden, ohne dass die Anlässe dazu für die Medien spektakulär genug wären: Partnerschaften gehen in die Brüche, weil sich der eine Partner in fremden Wahnwelten verloren hat; die Beziehung zu Freunden, Angehörigen und Kindern wird plötzlich unerträglich oder gar unmöglich, weil die Faszination und der Einfluss einer obskuren Gruppe jede vernünftige Auseinandersetzung verhindert. Firmen müssen entdecken, dass ganze Abteilungen von «Gleichgesinnten» unterwandert sind. Erbschaften verschwinden in der Werbemaschinerie von Gruppen, die schwerkranken Menschen noch eine letzte Chance vom Himmel herbeireden und sie damit oft auch noch von einer fachgerechten medizinischen Behandlung abhalten.

Das Geschäft mit dem Heilsglauben floriert und wird psychologisch und marketingstrategisch geschickt geschürt. Esoterikmessen - wie die alljährliche Messe «Lebenskraft» im Kongresshaus von Zürich - sind längst etabliert. Jahr für Jahr drängen neue AnbieterInnen auf den Markt, mit neuen Namen, neuen Gesichtern, jedoch nur vermeintlich neuen Konzepten. Die Attraktivität ihrer Versprechen von Selbstfindung, Selbstentfaltung und Selbsterlösung ist ebenso gross wie die Verunsicherung darüber, wer und welche Interessen hinter welchen Angeboten stecken. Entsprechend gehen bei infoSekta auch jährlich Anfragen zu über 200 verschiedenen Gruppen und AnbieterInnen ein. Manche davon sind uns selber ebenso unbekannt wie die Sonnentempler vor dem 5. Oktober 1994. Damit diese ständig wachsende Unübersichtlichkeit auf dem Markt der Heilsglauben besser durchschaut, problematische Entwicklungen früher erkannt und künftigen Medienspektakeln differenzierter begegnet werden kann, gilt es die Dokumentations- und Informationsarbeit von infoSekta zu verstärken und zu professionalisieren.

Appendix

abgedruckt im infoSekta-Tätigkeitsbericht 1994, S. 13-15

© September 1995. Verein infoSekta.  

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