Sekten - Schutz durch Erziehung (Sträuli, 1998)

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von Dieter Sträuli


Glücklicherweise...

...sind sie vorbei: jene 80er Jahre, in welchen die "neuen Jugendreligionen" sich beim Anwerben neuer Mitglieder auf Jugendliche konzentrierten. Neugierig und offen für andersartige Erfahrungen gingen die jungen Menschen damals auf das reichhaltige Angebot an alten und neuen Weltanschauungen zu und stellten so für manche christliche oder esoterische Gruppe ein ergiebiges Rekrutierungsfeld dar. 
Heute liegt das Durchschnittsalter für neueintretende Mitglieder solcher Gruppen etwa bei 30 Jahren. Das heisst aber nicht, dass die Aufklärung an den Schulen und im Elternhaus nun überflüssig geworden sei. Die Jugendlichen von heute sind immer noch die Sektenmitglieder von morgen. Auch sind viele Eltern verunsichert durch melodramatische Darstellungen des Sektenproblems in den Medien. Das Wort "Sekte" wird dort häufig so gebraucht, als sage es alles - alles Schlechte natürlich.
Kinder und Jugendlichen ist aber nicht damit gedient, dass man ihnen den Teufel an die Wand malt. Es ist sogar gefährlich, wenn wir ihnen beibringen, diese oder jene Gruppe sei an sich schlecht und es genüge, jeden Kontakt mit ihr zu vermeiden. Wenn wir als Erzieher und Erzieherinnen dazu beitragen wollen, dass Kinder und Jugendliche als Erwachsene nicht in gefährliche Abhängigkeit von esoterischen Gruppen oder Gurus geraten, sind drei Dinge nötig:

  • Aufklärung über die Anwerbungs- und Manipulationsstechniken, welche in sektiererischen Gruppen (und nicht nur dort!) zur Anwendung kommen,
  • Erziehung der Kinder zur Selbständigkeit, zum freien und überlegten Entscheiden und zur Beachtung ihrer eigener Bedürfnisse (was nicht mit Egoismus zu verwechseln ist!),
  • Religiöse Erziehung in einer Form, welche Kinder weder zu gehorsamen Fundamentalisten noch zu schwärmerischen New-Age-Anhängern machen will.

Religion (und Philosophie) sind zuständig für jenen Bereich unserer Existenz, in welchem die Wissenschaften überfordert sind: Was geschieht mit uns, wenn wir sterben? Was ist der Sinn unseres Lebens? Solche Fragen beschäftigen uns alle, und auch Kinder befassen sich mit ihnen, sobald sie sprechen können. Wir sollten als Eltern und Erzieher auf diese Fragen der Kinder eingehen. Schwer fällt uns dies vor allem dann, wenn wir irrigerweise glauben, den Kindern auf diese Fragen eine eindeutige Antwort schuldig zu sein. Aber hier liegt der springende Punkt: Kinder ertragen meist viel mehr Unsicherheit, als wir ihnen zumuten. Sie sollten lernen, sich über den Sinn des Lebens und die Grenzen unserer Erkenntnis Gedanken zu machen, ohne die "weissen Flecken" auf der Landkarte unseres Seins gleich mit einer wohlfeilen Antwort zu überkleben und sie so zum Verschwinden zu bringen. Wenn uns dies gelingt, so können wir hoffen, dass sie später nicht gebannt stehenbleiben, wenn sie in einer Fussgängerzone von einem jungen Mann mit Traktätchen angesprochen und gefragt werden: "Haben Sie eigentlich auch schon einmal über den Sinn des Lebens nachgedacht?"

Religion hat auch mit Gefühlen zu tun: Gefühlen des Zweifels, der Erhebung, der Faszination. Wer als Kind seine Gefühle nicht frei ausdrücken durfte, da die Eltern nicht Anteil an ihm nahmen und weder seine Freude noch seine Trauer teilten, der hat vielleicht lernen müssen, solche Gefühle tief in seiner Brust zu begraben. Dann wird er jenem Guru, jener Prophetin bedingungslos und mit klopfendem Herzen folgen, welche ihm tief in die Augen blicken, ihm die Hand auf die Stirne legen und sagen: "Hier bist du zuhause!" Als ganzheitlicher Mensch aber wird er solche suggestiven und theatralischen Rituale durschauen und sich nach echten Gefühlsbeziehungen umsehen.

Übrigens: Eine rigide und autoritäre religiöse Erziehung scheint ein ebenso guter Nährboden für eine spätere Sektenzugehörigkeit zu sein wie ein religiöses Vakuum in den Köpfen. Die Gruppen brauchen in den erstgenannten Fällen nur mit dem Schlagwort "Befreiung" zu winken. Es sind deshalb nicht die bahnbrechenden Resultate der neuesten naturwissenschaftlichen Forschung, welche die etablierten Kirchen am radikalsten herausfordern, sondern die Frage: Wie muss die Religion beschaffen sein, damit sie das Menschliche im Menschen erreicht und reifen lässt?

 

Appendix

Erschienen am 23.10.1998 im "Lichtensteiner Volksblatt"

© 1998. Verein infoSekta.

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