Prävention und Aufklärung in der Schweiz (Stamm, 1998)

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von Hugo Stamm


Die Aufklärung in der Schweiz

Wenn ich zurückschaue und Bilanz meiner 24jährigen Arbeit im Bereich der Sektenaufklärung ziehe, dann komme ich nicht um die Feststellung herum: totale Sisyphusarbeit. Wir wälzen den Stein nach oben, und es kommt eine immer grössere Lawine herunter. Das ist manchmal tatsächlich frustrierend, weil die sozialpolitische und gesellschaftliche Entwicklung gegen uns arbeitet. Viele Menschen sind desorientiert, autoritätsgläubig und verführbar. Der Nährboden für absolute Heilslehren ist an der Schwelle zum dritten Jahrtausend so gut wie noch nie. Aber ich gehöre zu denen, die nicht gern Bilanz ziehen, sondern lieber vorwärts schauen. Ich konzentriere mich lieber auf die Arbeit und versuche, den Berg abzubauen in der Hoffnung, dass in Zukunft weniger Steine herunterkollern. Es besteht jedoch kein Grund zur Resignation, denn es gibt immer wieder Erlebnisse, die mir zeigen, dass wir mit unserer Arbeit etwas bewegen und Leuten helfen können. Die Sensibilität und der Wissensstand der Öffentlichkeit haben in den letzten Jahren stark zugenommen, was mir zeigt, dass unsere Botschaften zu einem schönen Teil ankommen. Und für die Tatsache, dass immer mehr Leute das Bedürfnis nach (vermeintlichen) Erlösungsrezepten haben, können wir schliesslich nichts. 

Es wäre oft wünschenswert, dass die gelegentlich aufreibende Arbeit auf mehr Schultern verteilt werden könnte. Umso wichtiger ist, dass wir die Synergien unter den "Experten" nutzen. Und hier spielt infoSekta eine wichtige Rolle als Drehscheibe und Informationsreservoir. Der Erfahrungsaustausch und der persönliche Kontakt namentlich mit Susanne Schaaf, Urs Eschmann, Philipp Flammer und Dieter Sträuli sind für mich immer wieder Motivationsspritzen. Auch der Blick über die Zürcher Grenzen gibt Anlass zu Hoffnungen, hat doch Susanne Haller in Basel in kurzer Zeit vieles bewegt. Und dies auf der politischen Bühne, auf der das Trägheitsprinzip besonders spürbar ist.

Die Erfolge unserer Arbeit werden in letzter Zeit leider etwas getrübt. Verschiedene Vorkommnisse haben dazu geführt, dass zwischen einzelnen Mitstreitern Konflikte entstanden sind, die für alle belastend sind. Darin sind weder infoSekta noch ich verwickelt, doch werden wir indirekt auch tangiert. Die Auseinandersetzungen finden zwar vorwiegend in Deutschland statt, doch färben sie zunehmend auf die Schweiz ab. Das ist nicht nur wegen der verlorenen Synergien bedauerlich, sondern vor allem auch wegen der persönlichen Beziehungen, die darunter leiden. Wir arbeiten in einem extremen Umfeld und hochsensiblen Fachgebiet. Dies erfordert ein persönliches Engagement, weshalb auch die Gefahr der Konflikte recht gross ist. Es ist zu hoffen, dass sich die Kontrahenten bald wieder mit etwas kühlerem Kopf an einen Tisch setzen werden.

Entwicklung der letzten 20 Jahre

Als ich 1974 begann, umfasste mein Archiv etwa 70 Gruppen, jetzt dürften es etwa 700 sein. Daran zeigt sich die explosionsartige Entwicklung des Psychomarktes und der Sekten- und Kultszene. Da ist es rein schon vom Umfang her schwierig, den Überblick zu behalten. Der Erfahrungs- und Informationsaustausch ist deshalb besonders wichtig.

Wenn ich zurückblicke, was sich in den letzten gut zwanzig Jahren bei verschiedenen Gruppen getan hat, fällt mir vor allem der Umgang mit der Öffentlichkeit auf. Besonders diejenigen Bewegungen, die uns besonders auf Trab halten, zeigen heute nach aussen ein freundlicheres Gesicht. Die Aufklärung hat also etwas bewirkt, auch wenn dies unsere Arbeit oft nicht leichter macht.

Scientology stagniert komplett. Die Gruppe hat grosse Imageprobleme und ist finanziell nicht mehr auf Rosen gebettet. Die Öffentlichkeit weiss heute, was sie von Hubbards Kolonnen zu halten hat. Das Kreditunwesen wurde unter anderem auf Druck von aussen entschärft. Es ist aber ein Trugschluss zu glauben, Scientology hätte sich gemässigt. Es ist die gleiche Ideologie, die gleiche Hierarchie, die gleiche Struktur. Und es sind weitgehend die gleichen Kaderleute. Der Druck von aussen hat aber doch bewirkt, dass Scientology zumindest in der Schweiz etwas moderater auftritt als früher. Ein positives Signal ist auch der Wille des Zürcher Stadtrates, die Scientologen bei ihren Werbefeldzügen auf dem öffentlichen Grund zurückzudrängen.

Der VPM (Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis) hat seine Taktik radikal geändert. Zürich ist für ihn heute verlorenes Terrain. Er glaubt, dass sogar die bürgerlichen Parteien völlig im Sog der Neuen Linken seien, und zwar nach dem subversiven Prinzip. Deshalb hat er sich vorwiegend auf Deutschland konzentriert. Alle Stützpunkte in der Schweiz, die etwas Gewicht hatten, hat der VPM verloren. Selbst die SVP will nun auch nichts mehr mit ihm zu tun haben, nachdem die Partei mit der Initiative "Jugend ohne Drogen" eine unerwartete Abstimmungsschlappe einstecken musste. Und die hat sie eindeutig dem VPM zu verdanken.

Heute geben sich die VPM-Anhänger zurückhaltend und angepasst. Vorbei sind die Zeiten der Konflikte und Prozesse. Der Psychoverein hat erlebt, dass seine frühere Taktik ruinös war. Alle, die mit VPM-Leuten zu tun haben, sind froh darüber, dass die Anhänger von Annemarie Buchholz-Kaiser nicht mehr die Politik der Konfrontation betreiben. Allerdings sind sie auch weniger fassbar geworden. Doch lassen wir uns nicht täuschen: Hinter der Fassade hat sich nur wenig geändert.

Auch bei Hare Krishna findet eine Öffnung statt, was unter anderem mit dem Druck von aussen zu tun hat. Aber auch von innen kommt Druck. Die frauenverachtende Politik wird schrittweise gelockert, weil sich die Frauen bei Hare Krishna langsam emanzipieren und ihre Rechte einfordern. Früher hat es geheissen, nur diejenigen, die nicht heiraten und sich den strengen Ritualen unterziehen, hätten eine Chance, ins Krishna-Bewusstsein einzugehen. Auch hier ist man flexibler geworden, weil vor allem den langjährigen Anhängern das asketische Leben zugesetzt hat.

Was mich etwas beunruhigt, ist die Beobachtung, dass früher mehr Aussteiger gewagt haben, ihre Kritik an ihrer ehemaligen Gruppe zu formulieren. Es scheint, dass der Druck und die Angst zugenommen haben. Wahrscheinlich haben die Gruppen Gegenmassnahmen ergriffen, um den Informationsfluss zu unterbinden. Dies ist zweifellos eine negative Auswirkung der Aufklärung.

Prognosen

Ich befürchte, dass sich das Sektenproblem in Zukunft noch verschärfen wird. Die Gruppen nehmen die Kritik durchaus ernst und versuchen, die Angriffsflächen nach aussen zu verkleinern. Dadurch wird es einerseits problematischer, ihre Methoden transparent zu machen, andererseits ist es für Aussenstehende noch schwieriger, sich ein Bild zu machen. Viele Gruppen unterlaufen mit kosmetischen Massnahmen die Kritik und sind schwerer fassbar. Dieser Anpassungsprozess scheint mir jedoch nicht auf Einsicht zu beruhen, sondern bei vielen Gruppen eine rein taktische Massnahme zu sein.

Besondere Sorgen bereitet mir in letzter Zeit die Esoterikszene. Ich habe zwar nichts gegen Meditation oder Yoga, die gute Übungen sein können, um abends abzuschalten. Aber es setzen sich in dieser Szene eben in erster Linie diejenigen durch, die behaupten, sie seien erleuchtet, und vor allem darauf achten, dass ihr Portemonnaie leuchtet. Offensichtlich sind viele Leute so leichtgläubig, dass sie dorthin rennen, wo ihnen die spektakulärsten Versprechungen gemacht werden. Sie realisieren nicht, was Esoterik eigentlich bedeutet: Ein zeitloser und zweckfreier Weg nach innen. Wenn jemand an einem Wochenendseminar die schamanistischen Fähigkeiten entwickeln will, um dann selber als Heiler tätig zu sein, dann halte ich dies für bedenklich. Aber es ist gängige Praxis. Die Auswirkungen zeigen sich jeweils an der Esoterikmesse im Kongresshaus: An jeder Ecke irgendeine Handleserin oder ein Wahrsager, welche mitten im grössten Menschenrummel in der Seele ihrer Klienten herumstochern.

Besonders heikel sind in diesem Zusammenhang die Vernetzungen, die jetzt in dieser Szene stattfinden. Druiden, Neuheiden, völkische und germanische Gruppen, Veganer, Ufogläubige bis hin zu Rechtsradikalen finden sich im Glauben an die spirituellen Gesetze und an die Weltverschwörungstheorie. Selbst christliche Fundamentalisten kolportieren die Verschwörungskonstrukte.

Ein endloses Forschungsfeld

Ich glaube nicht daran, dass man mit Hilfe der Aufklärung die Welt verändern kann. Ich glaube vielmehr, dass die momentanen politischen, sozialen und vor allem wirtschaftlichen Umstände in erster Linie ausschlaggebend für das Bewusstsein und das Verhalten der meisten Menschen sind. Die bestimmenden Aspekte sind Sehnsüchte, Hoffnungen, Erwartungen, psychische Defizite. Und auf dieser Ebene holen die sektenhaften Gruppen leidende Menschen ab. Ich glaube aber auch, dass Informationen für die breite Öffentlichkeit und die vielfältige Unterstützung für die Betroffenen wichtige Beiträge sind, die negativen Auswirkungen der sektenhaften Gruppen etwas zu lindern. Und dafür lohnt sich der Einsatz.

Hugo Stamm

*1949; seit 1975 Redaktor beim Zürcher Tages-Anzeiger. 1974 begann er mit ersten Recherchen zu sogenannten "Jugendreligionen" und publizierte 1982 das Buch "Scientology - Seele im Würgegriff". Im Tages-Anzeiger veröffentlicht Stamm zahlreiche Artikel über verschiedene Sekten und vereinnahmende Gruppen, wird ein gefragter Interviewpartner in der Schweiz wie auch in Deutschland und hält Dutzende von Vorträgen zum Thema. 1996 erhielt er den Preis für Zivilcourage der "Vereinigung Christlicher Unternehmer" (VCU).

Bücher von Hugo Stamm

1993: VPM - Die Seelenfalle. "Psychologische Menschenkenntnis" als Heilsprogramm. Werd-Verlag : Zürich.

1996: Sekten. Im Bann von Sucht und Macht. Ausstiegshilfen für Betroffene und Angehörige. dtv : München.>

1998: Im Bann der Apokalypse. Endzeitvorstellungen in Kirchen, Sekten und Kulten. Pendo Verlag : Zürich.

2000: Achtung Esoterik. Zwischen Spiritualität und Verführung. Pendo Verlag : Zürich.

Bei folgenden Büchern ist Hugo Stamm Mitautor

Efler, Ingolf; Reile, Holger (Hg.), 1995. VPM - Die Psychosekte. Rowohlt-Verlag : Reinbek b. Hamburg.

Herrmann, Jörg (Hg.), 1992. Mission mit allen Mitteln. Der Scientology-Konzern auf Seelenfang. Rowohlt-Verlag : Reinbek b. Hamburg.

Vontobel, Jacques u.a., 1992. Das Paradies kann warten. Gruppierungen mit totalitärer Tendenz. Hrsg. im Auftrag der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich. Werd-Verlag: Zürich. 

Appendix

Überarbeitete Fassung des Gastreferats von Hugo Stamm anlässlich der Generalversammlung des Vereins infoSekta am 2. April 1998. Text abgedruckt im infoSekta-Tätigkeitsbericht 1997, S. 21-25.

@ Mai 1998. Verein infoSekta. 

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