Olympiastadion München, August 1996 (Deckert, 1996)

Eine (Wieder)Begegnung der (un)heimlichen Art.

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von Bruno Deckert


Annäherung.

München, Fahrt mit der U-Bahn zum Olympiazentrum. Ich bin um halb zehn etwas spät dran (erfahrungsgemäss beginnt das Programm so um neun oder spätestens jetzt), wundere mich deshalb nicht, dass kein relevanter Fahrgast zu entdecken ist. Dann, bei der zweitletzten Station, steigt er ein. Ich sehe ihn zuerst nur von hinten, zweifle jedoch keinen Moment an seiner Identität, der Anzug, die Mappe, die Gestalt. Als der Wagen hält, steigen wir zusammen aus, die Erkennungsmarke (Kongressabzeichen, 'Delegiertenschild') auf Brusthöhe (Format unverändert) fällt ins Auge und macht alles klar. Ich hefte mich an seine Fersen, obwohl ich den Weg auch ohne ihn leicht finden dürfte. (Vor 24 - in Worten vierundzwanzig - Jahren war ich das letzte - und bislang einzige Mal - hiergewesen, Internationaler Kongress der Zeugen Jehovas, ein Jahr nach den Olympischen Spielen im noch fast neuen Olympiastadion, Motto - in der Erinnerung auf einem grossen Ballon die Schriftzüge - 'Göttlicher Sieg', fünf Jahre nach meiner Taufe war damals vieles - wenn auch schon nicht mehr alles - unverbraucht und stark.) Der Weg zieht sich bis zum Stadion, meine Anspannung wird spürbar, einige Nachzügler gesellen sich dazu, sie beeilen sich ('auf keinen Fall den Anfang verpassen'), während ich zu schlendern versuche, vorbei an einem noch vor sich hindösenden Festbetrieb vor der Olympiahalle. Und dann (endlich?) höre ich - bevor die Menge sichtbar wird - Musik, einen vielstimmigen Chor und ein Lied der Art, wie ich es vor acht Jahren zum letzten Mal gehört und selbst gesungen habe. Durch die Stadiontore verlasse ich die Aussenwelt und tauche ein, ab und unter.

Die Absicht.

Ich habe mich gut vorbereitet und auf das zu Erwartende einzustellen versucht. Meine Mission geschieht in eigenem Auftrag, ich weiss, was ich will, der 'Forschungszweck' ist definiert, ich kenne meine Rolle. Ich führe nichts Böses im Schilde, möchte einfach zuhören, zuschauen, beobachten und - falls es sich ergibt - mit einigen Kongressteilnehmern einige Worte wechseln. Als Seismograph die (feinen?) Schwingungen und Erschütterungen registrieren, frei-schwebend aufmerksam sein, absichtslos meiner Absicht nachgehen. Es soll ein Versuch sein, als ehemaliger Zeuge Jehovas sich den Zeugen Jehovas wie einer fremden Volks- oder Kulturgruppe zu nähern, als ob man nichts oder kaum etwas von ihnen wüsste und begreifen wollte, um was es hier und diesen Leuten geht. Ein Klopfen an der Haustür, obwohl man den Schlüssel hat ('Verzicht auf den Gebrauch von Vorherwissen'). Im Naiv-Sich-Stellen naiv sein wollen. Die Quadratur des Kreises. Kann so etwas überhaupt gutgehen?

Ein, zwei Doppelleben.

Die Wiederkehr alter Erlebens- und Verhaltensmuster ist bei solchen Vorgaben unausweichlich. Ich sehe mich gezwungen, Strategien wiederzubeleben, die mir als Zeuge Jehovas vertraut waren, die ich über Jahre hinweg beherrscht, verfeinert, fast selbstzerstörerisch kultiviert hatte. Ich meine das Reden 'mit gespaltener Zunge' (ein schönes Bibelwort), das Benützen verschiedener Geleise des Denkens und Handelns, der Rollenwechsel, das So-Tun-Als-Ob, das Spiel mit gezinkten Karten, das Schlüpfen in und Ablegen von Fassaden, Masken, Identitäten. Zeuge Jehovas sein hiess für mich, ein konsequentes Doppelleben zu führen. Es war (mit den Jahren) eine Art Überlebensstrategie, eine existentielle Notwendigkeit, oder besser: meine Not-Lösung, solange Lebensumstände, Einsicht und Mut sich noch nicht zu der Konstellation gefügt hatten, die den Entscheid, den Sprung möglich machte. Und nun? Eine Fortsetzung der alten Politik mit neuen Mitteln oder die Verwendung alter Mittel im Dienste einer neuen Politik? So sehr die früheren und jetzigen Rollenspiele sich zu gleichen, zu wiederholen scheinen, so grundverschieden wurden resp. werden sie andererseits erlebt. Mein Doppelleben als Zeuge Jehovas hatte nichts Spielerisches oder gar Lustvolles an sich, es war mehrheitlich Krampf, Anspannung, Aufwand, Verschleiss, immer Ernstfall, immer die Angst vor der Entlarvung. Immer stand alles auf dem Spiel. Damit verglichen ist die jetzige Schauspielerei zeitweise fast vergnüglich, durchaus spannend, aufregend, irgendwie abenteuerlich. Ich geniesse, was sich abspielt. Dem alten Regime ein Schnippchen schlagen. Die überlisten, die alles im Griff, unter Kontrolle haben wollen und müssen. Die Laus im Pelz. Daneben aber auch Anwandlungen von Unwirklichkeit, von Entfremdung, als ob das ganze nur in meiner Vorstellung stattfinde. Überhaupt haben die drei Tage etwas Traumwandlerisches und leicht Verrücktes an sich, ganz anders als die durchschnittliche Alltagserfahrung. Die altvertraute, während vieler Jahre angenommene und einverleibte, dann abgeschüttelte, aufgegebene und letztlich fremd gewordene Erlebensweise ist urplötzlich wieder präsent, bekannt und vertraut. So unmittelbar vertraut, als sei ich, was ich war, jetzt wieder oder nie etwas anderes gewesen. Für ganz kurze Momente (kaum lang genug, um sie richtig festhalten zu können) ist mir alles so fraglos selbstverständlich, wie es nur dem Eingeweihten sein kann. Es ist eine Art Rückfall, ein Absturz als Folge von Unaufmerksamkeit. Die Reflexion erholt sich, der kritisch-analysierende Geist lässt sich beschwichtigen und ruht für eine Sekunde aus in wohlig weicher Gewissheit und Sicherheit, im Besitz der absoluten Wahrheit. Das sind denn auch die einzigen Bewusstseinslücken, durch die so etwas wie Trauer eindringt, Trauer über den Verlust dessen, was sich als trügerischer Besitz, als falsche Münze erwiesen hat. Wenn nach solch flüchtigen Absenzen die andere Stimme (das Gegenwarts-Ich) sich wieder meldet und Distanz schafft, verwandelt sich das Empfinden in ein Nach-Empfinden, in den Versuch, die Gedanken und Gefühle der anderen Menschen um mich her zu verstehen, die Art und Weise ihres Zuhörens und Aufmerkens, ihr Blättern in der Bibel, ihr Applaudieren. So pendle ich von aussen nach innen und wieder zurück, klinke mich in Denkweisen ein und aus und staune, wie wenig es im Grunde genommen braucht, bis das Widersinnige (wieder) vernünftig, das Unglaubliche (wieder) glaubhaft und das Unmenschliche (wieder) göttlich wird. Und vice versa.

Das Interesse eines 'Ungläubigen'.

Ein weiteres (scheinbares) Paradox: Ich mag mich nicht erinnern, jemals (ausgenommen vielleicht die Anfangsphase der bedingungslos gläubigen Ergriffenheit) ein Kongressprogramm so aufmerksam, so motiviert und interessiert verfolgt zu haben. Nichts ist zu spüren von der lähmenden, fast schmerzhaften Langeweile und Apathie, die mich vor allem während der letzten Jahre bei diesen Grossanlässen befiel und nur durch die (leere) Betriebsamkeit und Wichtigtuerei eines Ältestenamtes plus Kongressämtchens einigermassen erträglich resp. kompensiert wurde. Der Widerspruch (damals gläubig [?] und gelangweilt , jetzt ungläubig [?] und interessiert) ist - wie gesagt - nur ein scheinbarer: Was kann und darf denn ein Zeuge Jehovas vom Kongressprogramm mit Recht erwarten (vom Rahmenprogramm, das andere Funktionen erfüllt, einmal abgesehen: Kongresse als Kontaktstelle, Jahrmarkt der Eitelkeiten, Forum des Sehens und Gesehen-Werdens, Klatsch)? Zumindest nicht viel Neues. Die Erwartungen sind resp. werden oft hochgeschraubt ('neues Licht', neue Anweisungen von der Kommandozentrale), laufen jedoch meistens ins Leere. Zwei, drei neu-alte Publikationen (Marke 'Speise zur rechten Zeit'), Variationen des 'ewig' Gleichen ('die Grundwahrheiten bleiben sich ja gleich'), man sucht das Neue wie die Nadel im Heuhaufen. Das 'Drama', die 'Schlussansprache', na ja. Hie und da eine Formulierung, wie man sie so noch nicht gehört hat, vielleicht mal ein markiger Spruch, der zu Pausengesprächen Anlass gibt, aber ansonsten: wie gehabt. Das meiste, was geboten wird, ist formal und inhaltlich Ritual, und zum Ritual gehört Ankündigung, Erwartung, Suggestion, wie schön und grossartig alles ist, das Neue aber hat auf einem Stecknadelkopf Platz. Alte Hasen wissen das und erwarten im Grunde genommen auch nicht mehr. Ganz anders nun präsentiert sich das Szenario mir, dem mittlerweile unbelasteten (!), 'interessierten', gleichzeitig aber auch der Sache kundigen Beobachter und Teilnehmer. Nur einer wie ich - so die erfahrungsgesättigte Behauptung - kann und darf Neuartiges sehen, Trends feststellen, Entwicklungen ahnen. Nur mit einem Erkenntnisinteresse, das sich von den alten Voraussetzungen zu lösen versucht hat und einen anderen Blick auf die früheren Dinge wagt, kann ich in den Darbietungen und dem ganzen Drumherum das Andere, das Neue erblicken. So kommt keine Langeweile, keine Müdigkeit, kein sehnsüchtiges Erwarten des Schlussgebetes auf. Ich habe das mir als Zeuge Jehovas mit den Jahren abhanden gekommene Gefühl wieder, von und bei ihnen etwas lernen zu können.

Zwischentöne.

An der Oberfläche sind Veränderungen kaum wahrnehmbar. Das Programm-Faltblatt ist von der Aufmachung her praktisch identisch mit dem vor 9 Jahren, auch der formale Rahmen, die thematischen Schwerpunkte, die Themen der einzelnen Programmpunkte sind weitgehend noch dieselben. Würde ich mich nur an diese Hinweise halten, müsste ich zum Schluss kommen, dass bei Jehovas Zeugen die Zeit stehengeblieben ist. Déja-vu, déja-lit, wohin ich blicke. Hätte ich Bestätigung für die These gesucht, dass sich bei Jehovas Zeugen nichts geändert hat und wohl auch nichts ändern wird, ich hätte (und habe) Belege dafür zuhauf gefunden. Die Tonlage, der Stil der Ansprachen, das Vokabular, auch das meiste an Inhalt ist Einheitskost, im doppelten Sinn des Wortes. Das ist so - aber es ist nur die eine Seite. Denn ebenso auffallend sind beim genaueren Zuhören die Nuancen, die Zwischentöne, ist ein wahrnehmbarer atmosphärischer Trend herauszuhören. Im Verlauf der drei Kongresstage haben sie sich mir zu einem Eindruck geformt, in dem sich drei, sich gegenseitig schneidende Hauptlinien erkennen lassen:

Die erste dieser Linien ist psychologischer Natur und hat mit dem kollektiven Grundbefinden der Wachtturm-Gesellschaft resp. der Zeugen Jehovas als Weltgemeinschaft zu tun. Mir fiel auf, wie die Wachtturm-Gesellschaft in den letzten Jahren (noch) selbstbewusster, in ihrem Selbstverständnis (noch) selbstsicherer, oder -wenn man es weniger wertneutral sagen möchte - (noch) arroganter geworden ist. Es scheint, als hätten sie - zumindest bis auf weiteres - die schwierige Kurve gemeistert, die das Problem der 'aussterbenden Generation' darstellte (siehe w.u.), und lasse jetzt wie selten zuvor ihre Muskeln spielen. Ihr deutlich gehobenes Selbstgefühl, von dem sich der einzelne Zeuge Jehovas anstecken lassen soll, ist einem Umstand zuzuschreiben, der Menschen und Menschengruppen ganz allgemein sehr leicht euphorisch werden lässt: dem (zumindest statistischen) Erfolg. Der Netto-Zuwachs an 'Verkündigern' ist beachtlich, und er fällt noch beachtlicher aus, wenn man die durchaus nennenswerten Abgänge der letzten Jahre in Rechnung stellt. Der Erfolg wird denn auch reichlich und gebührend zelebriert. Er wird für die Stärkung der Gruppenidentität ausgebeutet (wer möchte nicht in einem erfolgreichen Unternehmen arbeiten), er liefert die göttliche Legitimation (wem, wenn nicht dem Segen Jehovas verdanken wir dies alles), er kompensiert individuelle Erfolglosigkeit, Stillstand und Ermüdung und fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer weltweiten Gemeinschaft (wer möchte nicht gern Teil eines grösseren Ganzen sein). Das ständige Vor-Augen-Führen der 'Mehrung', der unaufhörlichen Bautätigkeit, der forcierten Produktion von Literatur und anderen 'Hilfsmitteln', dieser Gigantismus der Zahlen und Grössen wirkt wie eine Droge. Die Zuwachsraten der Wachtturm-Gesellschaft sind momentan ihre stärkste argumentative Keule gegen Zweifel und Kritik von innen.

Die zweite Tendenz des Kongressprogramms war, obwohl eng mit der ersten verknüpft, vorerst noch undeutlich und unspezifisch artikuliert. Sie schwang immer dann mit, wenn vom Werk des Predigens und Jüngermachens die Rede war. Wer derart wie die Wachtturm-Gesellschaft vom Erfolg abhängt oder besser: sich vom Erfolg abhängig macht (zum Erfolg 'verdammt' ist), muss alles daransetzen, dass dieser nicht ausbleibt. Deshalb werden Jehovas Zeugen weiter predigen (müssen), sie werden versuchen, neue Märkte zu erschliessen und die alten besser zu nutzen (neuestes Produkt: der Wie-werde-ich-ein-Zeuge-Jehovas-Schnellkurs in 16 Lektionen 'Was erwartet Gott von uns?'), sie werden deshalb weiter ihre Botschaft durch Gedrucktes und andere Mittel verteilen, verbreiten, verwenden, die Druckmaschinen werden deshalb weiter laufen, neue 'Fabriken' werden gebaut werden müssen, in denen die benötigte Literatur gedruckt wird, die dann wieder ... Was ist das Neue an dieser Prognose? Oberflächlich gesehen gar nichts. Predigen, mit den Zeitschriften von Haus zu Haus gehen, Jüngermachen ist seit Rutherfords und Knorrs Zeiten das gesellschaftliche Aushängeschild von Jehovas Zeugen. Ihre Mission, die Verkündigung, bildete bislang den Kern, die Mitte ihres Selbst-verständnisses. Dass dies (auf absehbare Zeit) so bleibt, muss nicht aus den Sternen gelesen werden. Nicht dass Jehovas Zeugen weiterhin öffentlich predigen, ist zu konstatieren, sondern wozu sie dies tun werden. Der Befund ist einfach, aber dem einzelnen Zeugen Jehovas nicht einfach zu vermitteln: Das Ende kommt nicht, gepredigt werden aber muss weiter und immer weiter, Systemende hin oder her. Das 'Werk' des Predigen und Jüngermachens hat (im Sinne eines veritablen Unternehmens, das an handfeste ökonomische Grundlagen gebunden ist) mittlerweile eine Eigendynamik entwickelt und ist dabei, sich als Selbstzweck zu etablieren. Auch wenn es natürlich so nicht gesagt wurde (und wohl nie gesagt werden darf): Die Verkündigungs- und damit die Produktionsmaschinerie muss - mit welchem konkreten Inhalt auch immer - in Gang, in Schwung gehalten werden. The work musst go on. Das ist die zentrale - wenngleich verschlüsselte - Botschaft der Wachtturm-Gesellschaft an Jehovas Zeugen.

Auch die dritte Figur, die sich zwischen den Standardbildern andeutete, steht nicht isoliert da. Sie kristallisiert sich - wie von selbst - aus dem Hintergrund des neuen, vom Erfolg getragenen Selbstbewusstseins heraus sowie der Notwendigkeit, eine für potentielle Mitglieder attraktive Botschaft zu vermitteln, als Gemeinschaft potentiell attraktiv sein und bleiben zu müssen. Sie bezeichnet eine (vorerst noch leichte) Verschiebung des inhaltlichen Schwerpunktes, weg von der reinen Droh- und Vernichtungsbotschaft zugunsten des Angebotes einer neuen, positiven Lebens-, Werk-, Sinn- und Glaubensgemeinschaft, die einen Wert für sich darstellen und Grund genug sein soll, ein Zeuge Jehovas zu sein resp. zu werden (möge das Ende kommen - oder eben nicht). Die Zeichen stehen gut. Ein immer rasanter sich vollziehender sozial-wirtschaftlich-technologischer Wandel, Wertepluralismus, Sinnverlust, Kriege, Umweltzerstörung, Krisenstimmung, Zukunftsangst, ..... Wer blickt durch? Wo ist Hoffnung? Das Individuum heillos überfordert, kein Heil in Sicht. Das ist die Marktlücke, die Ressource, die Alternative, die Wahrheit. Und das tönt dann so: 'Aufrichtige Menschen brauchen Hilfe. Nur wir können sie ihnen geben! ... Niemand hat die Einheit, wie wir sie haben! ... Jedesmal, wenn wir in den Dienst gehen, sehen wir den Unterschied zwischen denen, die Gott dienen, und denen, die ihm nicht dienen!' Der Imagewandel ist eingeleitet, die Gewichte werden umverteilt, vorsichtig, schrittweise, man möchte nicht vor den Kopf stossen. Noch ist vom Ende dieses Systems die Rede, von der grossen Drangsal, deren Zeitpunkt feststeht ('Jehova hat den Zeitpunkt nicht geändert'), vom Überleben und von der Strafe für die Treulosen, von der neuen Ordnung, 'auf die wir alle so sehnlich warten' und von der Vernichtung Satans und alles Bösen. Neben dieser - sagen wir - klassischen Botschaft der Zeugen Jehovas gewinnt das neue (modernere?) Programm immer mehr an Profil (im Sinne des an diesem Kongress freigegebenen Büchleins 'Das Geheimnis des Familienglücks'): Lebenshilfe, Charakterschulung, positive Werte, vernünftige, wenngleich strenge Grundsätze, Ordnung im kleinen und grossen, 'Rationalität' (nicht Esoterik), Bibel pur, Jehovas Zeugen als die guten, die besten Mitbürger, Nachbarn, denen man trauen kann, summa summarum: die Modellgesellschaft, die letzte Hoffnung, die Lösung.

Das Sprachspiel der Eindeutigkeit.

Nach langjähriger Abstinenz und zwischenzeitlicher Erholung in frischer(er) Denk- und Geistesluft finde ich mich plötzlich in einer Sprachwelt, einem Sprachgebrauch, einem Sprachstil und damit Denkstil wieder, in deren Umgebung und unter deren Einfluss es einem - buchstäblich - die eigene Sprache verschlägt, verschlagen musste. Die Kongresssprache (die Sprache des Wachtturms) ist der unaufhörliche, angestrengt, ja verbissen geführte Versuch, Eindeutigkeit herzustellen, auf Nuancen zu verzichten, Differenzierungen auszuschliessen. Von der Bühne aus wird so gesprochen, als ob Wörter nur eine Bedeutung haben und ein Ort, an dem diese Bedeutung aufbewahrt wird (nämlich dort vorne, oder dort oben in Brooklyn). Dass Wörter immer auf andere Wörter verweisen, dass Wörter und Sätze so, aber auch anders verstanden werden können, dass Zwei- und Mehrdeutigkeit zum Wesen der Sprache gehört, bleibt weggeblendet und ausgeschaltet. Zu jeder Frage gibt es eine eindeutige (natürliche biblische und somit eindeutige) Antwort. Es geht um richtig und falsch ('Es gibt nur eine richtige Religionsorganisation, die alle nötigen Kennzeichen erfüllt'), immer und nie, positiv und negativ ('Wir möchten nie negativ denken'), einen oder keinen ('Es gibt nur einen Lebensstil für einen christlichen Mann und nur einen für eine christliche Frau'), drinnen und draussen ('Ausserhalb von Gottes Organisation hat das Leben letztlich keinen Sinn'), ja und nein ('Ist es schwer, dieser Religionsorganisation anzugehören? - Nein'). Und falls doch einmal der Konjunktiv zur Anwendung kommt ('Es mag sein ..., könnte es nicht sein ..., würden wir es schätzen ...'), steht er im Dienst derselben Absicht, erfüllt dieselbe Funktion: Wie sich etwas verhält oder verhalten soll, was der Sinn oder die Bedeutung eines Sachverhalts ist, darf dem einzelnen Zuhörer nicht offen oder fraglich bleiben. Was in der Schwebe bleibt oder bleiben darf (bspw. das neue 'Verständnis' von 'Generation', siehe w.u.), wird genau definiert, die Vagheit eines Begriffs wird genau umschrieben, damit eine Widerlegung nicht möglich ist. Die Fragen und Bereiche, in denen sich die Wachtturm-Gesellschaft nicht festlegen will, legt sie selbst fest, und was sie als grau bezeichnet, ist es so lange, bis es als weiss oder schwarz definiert wird. Wer derart kontrolliert und überwacht, muss die Sprache als Hilfsmittel seiner Kontrolle in ein Korsett zwingen, in der ihr die Luft ausgeht. Sie darf sich keine Sprünge, keine Kapriolen erlauben. Sie muss sich immer zusammennehmen, beherrschen, mit sich selber zufrieden sein. Die Sprache der Wachtturm-Gesellschaft ist ein stehendes, ein trübes Wasser.

Das lähmend Positive.

Solche Eigentümlichkeiten können sich nur oder erst richtig erschliessen, wenn man in dieser sprachlichen Atmosphäre nicht oder nicht mehr lebt. Wie die starre Verpflichtung zum So und Nicht-Anders einem Entwöhnten wie mir sehr rasch bewusst und dann auch lästig wird, entdecke ich bald, wie eine ähnliche Wirkung von der 'positiven' Geisteshaltung ausgeht, die fast alle Ansprachen durchzieht. Es ist, als würde jeder Anflug eines kritischen Gedankens, das geringste Aufmucken oder Bedenken oder Abwägen in einer Watte aus Fürsorglichkeit und Wohlwollen erstickt. Nicht weiter hinterfragbar, implizit und explizit wird unterstellt: Die Organisation meint es gut (überhaupt, aber auch mit Dir persönlich). Du wirst doch ihre Lehren, Anweisungen, Anregungen etc. nicht ablehnen? Als eine eigene Tonspur läuft das positive Denken neben den jeweiligen Inhalten ('Wir möchten uns nicht über unsere Brüder ärgern ... Jehovas Zeugen berichten gerne über ihre Tätigkeit ... Schätzen wir, was Jehova durch seine Organisation für uns tut ... Wir freuen uns über das Erreichte, aber wir dürfen nicht nachlassen ... Wir wollen doch nicht jenen gleichen, die ... Mit Begeisterung haben wir auf die neue Publikation reagiert ... Schätzt du dieses Vorrecht ... Voll Bereitwilligkeit werden wir ... Bist Du nicht dankbar und froh ...'). Wer auf dieser Woge nicht schwimmen, die 'richtigen' Gefühle und Einstellungen nicht (mehr) mobilisieren kann, hat einen schweren Stand. Die Sicherheit und Be-stimmheit, mit der die Wachtturm-Gesellschaft nicht nur ihre Lehren, sondern auch die passenden Gefühle und Einstellungen verordnet, ihr Selbstverständnis als Sprachrohr aller (guten und echten) Zeugen Jehovas, ihre suggestive Rhetorik lähmt jeden ernsthaften Widerspruch oder setzt den Widersprechenden a priori ins Unrecht. Überhaupt frappiert die fraglose Selbstverständlichkeit (um nicht zu sagen Selbstherrlichkeit) einer Argumentation, die den betreffenden Gedankengang oder die jeweils zu akzeptierende Ansicht als derart plausibel darstellt und oft sogar schon voraussetzt, dass einer anderen Meinung nur schlechte Absichten - und nicht etwa gute Argumente - zugrundeliegen können.

Fallbeispiel 'Generation'.

Anschauungsunterricht für diese rhetorischen Aspekte liefert modellhaft eine ('mit Spannung erwartete') Ansprache am Samstag, in der Fragen zu wichtigen Lehränderungen der letzten Zeit ('neuem Licht') beantwortet werden sollen. (Gibt's Probleme mit dem erst kürzlich hergestellten und noch kaum erprobten neuen Heilmittel, das die ausgestorbene Generation wieder reanimieren soll? Hat man die neue Pille geschluckt? Störende Nebenwirkungen? Nervosität?) Nichts von all dem. Business as usual. Es geht nicht darum, ob das 'neue Licht' wirklich so neu, so hell, so leuchtend ist, ob es wirklich das Problem, die Frage erhellt oder beleuchtet. Es geht darum, ob auch alle richtig verstanden haben, was jetzt Sache ist, ob sie das neue Licht angeschlossen oder noch an der alten Lampe hängen. Die Logik oder Plausibilität der Erklärung selbst steht nicht zur Diskussion. Man möchte lediglich noch klarstellen, möchte denen helfen, die eine längere Leitung (ein besseres Gedächtnis?) haben. Frage: 'Führt unser neues Verständnis bezüglich des Begriffes 'Generation' zu einer Änderung der Bedeutung des Jahres 1914? - Nein' (Warum auch. Der Schachzug von wegen Generation = Epoche, Zeitalter, Ära leistet ja gerade das scheinbar Unmögliche: Man kann an 1914 als dem für Jehovas Zeugen bislang symbolträchtigsten und unverzichtbarsten Datum - zumindest stillschweigend und zumindest vorläufig - noch festhalten und dennoch das Ende, Harmagedon, das neue System - zumindest theoretisch - auf den St. Nimmerleinstag verschieben). Weiter: 'Jesus meinte mit Generation die jüdischen Massen, die ihn verwarfen. Er sprach von den ungläubigen Juden seiner Zeit. Wir geben zu, dass wir nicht immer so dachten. Man (!) wollte lange ein zeitliches Element daraus ableiten' (Vordergründig wird ein Irrtum eingestanden, um im nächsten Satz wieder zurückgenommen zu werden. 'Man', das sind im Klartext die anderen und nicht wir. Und wer jetzt noch an dem festhält, woran vor dem 1. November des letzten Jahres alle sich festhielten resp. festzuhalten hatten, gehört dann sowieso zu dieser ominösen 'Man'-Gruppe, denn wir denken jetzt anders). Und nun die Quintessenz: 'Heisst das, dass das Ende in die ferne Zukunft verschoben wird? Im Gegenteil: Wir sollten das Ende noch bewusster erwarten. Der Begriff 'Generation' bezieht sich auf eine relativ kurze Spanne (Bsp. Soldaten zur Zeit Napoleons), die jedoch zeitlich nicht begrenzt ist. Wir müssen also noch mehr wachsam sein als zuvor' (Ich könnte mir kein schöneres Beispiel wünschen für die so logisch sich gebärdende und so seltsam verschraubte 'Rationalität' der Wachtturm-Rede. Für eine Schlussfolgerung gibt sie meistens Gründe an. Allein dieser Umstand, dass eine Schlussfolgerung begründet wird, muss dem einzelnen Zeugen Jehovas genügen - und genügt ihm in der Regel auch -, dass er die Schlussfolgerung vernünftig findet und annimmt. Die Stichhaltigkeit und Relevanz der Gründe selbst, die Gültigkeit des Arguments steht nicht zur Diskussion. Die ist stillschweigend und immer schon unterstellt. So kann und darf es sich die Wachtturm-Rede leisten, Unvereinbares zu mischen und Gleiches zu unterscheiden. So ist ein Zeitraum kurz und doch nicht kurz, begrenzt und nicht begrenzt, so ist etwas anders und doch immer noch gleich, gleich und doch auch wieder verschieden. Dem jeweiligen Zweck - hier: die Naherwartung des Endes zu bewahren - kann jedes Mittel, auch ein eigentliches Gegenmittel fügig gemacht werden. Wenn die Vernünftigkeit immer schon garantiert ist, lässt sich alles sagen. Von daher überrascht es mich auch nicht (mehr), als ein neben mir sitzender sehr freundlicher Bethel-Mitarbeiter auf meine Frage nach der so wichtigen Lehränderung meint, ihn habe eigentlich immer ein bisschen gestört (!), dass hier mit Jahreszahlen operiert werde. Die neue Erklärung befriedige ihn viel mehr (eine Wertung, die er vor der 'Wende' nicht allzu laut hätte kundtun dürfen). Dem Reinen sind alle Dinge rein, lautet das Bibelwort. Dem Reinen haben alle Dinge rein zu sein, weiss der erfahrene Zeuge Jehovas.

Stehende Ovation.

Während der Taufansprache vertrete ich mir in den Tribünengängen die Beine zusammen mit kinderwagenschiebenden, überwiegend nicht sehr glücklich dreinblickenden jungen Vätern und einigem Jungvolk, das über das nötige Sitzleder, sprich Interesse, sprich Disziplin (noch) nicht verfügt und nach anderem Jungvolk Ausschau hält. Ich scheine der einzige zu sein, der schlendert, die anderen streben absichtsvoll irgendwohin oder irgendwem zu, denn es ist Programm, man sollte zuhören. Gegen Ende der Ansprache ('Darf ich die Taufbewerber nun bitten, aufzustehen ...') drängt man sich wieder in die Tribünenein- und -ausgänge, um den Moment nicht zu verpassen, wo die Täuflinge(?) gebeten werden, die beiden Fragen mit ja zu beantworten, wo sie dann auch hörbar ja sagen, wo gemeinsam gesungen und für die Täuflinge gebetet wird, wo sie dann unter den Augen aller das Stadion verlassen, um sich taufen zu lassen. Auch ich möchte diesem Schauspiel beiwohnen. Erinnerungen, Nürnberg 1969, Zeppelinwiese, ich so jung und alles so gross und göttlich überwältigend, wie lange ist das her. Ich nehme an, dass in der Ansprache gesagt wurde, es handle sich für den Täufling um den wichtigsten Tag in seinem Leben. Vielleicht wird er für den Betreffenden, die Betreffende letztendlich nicht der wichtigste gewesen sein, aber ein wichtiger, ein aus verschiedenen Gründen ganz wichtiger ist er allemal. Ich lasse mich mitreissen und begreife unmittelbar, was an diesem Geschehen so wichtig ist. Wann wieder - wenn überhaupt je wieder - wird einem Individuum diese Aufmerksamkeit, diese Zuwendung, dieses ungeschmälerte Wohlwollen zuteil. Das Lied gilt Dir, das Gebet gilt Dir, der Applaus ist für Dich (eigentlich keine kleine Ironie auf die sonst so hochgehaltene Warnung vor jeder Art von 'Menschenverehrung'). Du spürst alle Augen auf Dich gerichtet. Du stehst buchstäblich im Mittelpunkt. Du bist angenommen und wichtig. Du gehörst jetzt dazu - Nach dem Amen bleiben die Tausende stehen und klatschen, klatschen minutenlang der Gruppe zu, die langsam das Stadion verlässt und ihrerseits den Tausenden von unten zuwinkt. Ich sehe die Tränen in den Augen nicht weniger, sie klatschen für die da unten, die Neuen, sie klatschen und winken und weinen aber auch für und um sich selbst. Denn jeder Neugetaufte ist eine Rückversicherung der eigenen (womöglich prekären) Existenz als Zeuge/Zeugin Jehovas und Ansporn, darin fortzufahren. Noch Minuten später bin ich wie betäubt, unsicher ob von der Wirkung des Geschehens oder der Erkenntnis, die sie mir beschert hat. Stärkere Augenblicke des Wir-Gefühls wird ein Zeuge Jehovas kaum (mehr) erleben. Was immer die Taufe und die Taufzeremonie für den einzelnen darüberhinaus noch bedeuten mag, sie ist der Ort, an dem seine kollektive Identität gestiftet und verstärkt , wo zusammengeführt wird, was im Alltag oft genug zerfällt. Hier darf, hier muss ich mich einsfühlen, mich identifizieren mit all den anderen, dem Namen Jehova, Jehovas Zeugen, dem grossen Werk, der theokratischen Organisation.

Der Mensch in der Masse.

Natürlich sind das, wovon ich spreche, bekannte Phänomene der Masse. Auch als Zeuge Jehovas hätte ich nicht abgestritten, dass es so etwas wie Massensuggestion oder Masseneuphorie gibt, 'aber bei uns ist das etwas anderes'. Als Zeuge Jehovas kann, konnte ich nicht akzeptieren, bei einem Bezirkskongress Teil und Beobachter eines Massenphänomens zu sein. Der Nimbus des Göttlichen, das Charisma von Gottes Organisation umgibt den Kongressbetrieb. Jehova ist der Schirmherr, das Stadion unser Königreichsaal. Profane Erklärungsmuster lassen sich nicht anwenden. Keine Masse weit und breit ... Für mich als ein aus der Fremde (aber nicht als verlorener Sohn) Zurückgekehrter stellt sich die Szenerie ganz anders dar. Die alten Selbstverständlichkeiten sind mir abhanden gekommen, und was sich früher von selbst ergab, fällt mir jetzt auf. Obwohl ich in meiner Rolle als höflich-distanzierter, neutraler Beobachter nicht bedrängt werde, stelle ich schon ziemlich bald fest, wie sich mein Verhalten zu verändern beginnt. Nicht stark, aber doch merklich. Zumindest so, dass ich schon am zweiten Tag auf den ersten Blick durchaus von einem Zeugen Jehovas oder einem 'An-der-Wahrheit-Interessierten' nicht notwendig mehr zu unterscheiden bin. Ich bin etwas lockerer, entspannter geworden (ich blicke öfters umher und nehme Blicke auf), hole von Zeit zu Zeit das Faltprogramm oder eine der neuen Publikationen hervor (wie um zu demonstrieren, dass ich hier am richtigen Ort bin), stehe ohne Verzögerung zum Gebet auf (und nicht wie am ersten Tag gespielt unsicher), senke schon das Haupt zum Gebet und ertappe mich einmal, dass ich Amen (!) sage wie alle anderen auch. Und wer weiss, binnen kurzem hätte ich die Lieder mitgesungen oder den Sitznachbarn gefragt: Was war das gerade noch für eine Schriftstelle? Eine subtile Dynamik der Anpassung, des Sich-Einreihens und Dazugehörens spielt von dem Moment an, da du dich in die Masse begibst oder sie auch nur beobachtest. Niemand hat mich gezwungen, niemand hat mich aufgefordert, und niemand hat mir böse Blicke zugeworfen. Die leichten Verhaltensänderungen waren nicht einem äusseren Druck zuzuschreiben, den man auf mich ausgeübt hätte - und der notabene sehr wohl eine mächtige Form sozialer Kontrolle unter Jehovas Zeugen darstellt. Es war eher wie Ansteckung, wie ein kaum fühlbarer Sog, der vom kollektiven Verhalten und der Stimmung um mich herum ausging, von so viel 'netten, freundlichen und ruhigen Menschen'. Dieses Verhalten, diese Stimmung hat etwas Unbedingtes, Voraussetzungsloses, Selbstverständliches. Es ist einfach so, wie es ist, und es ist richtig so. Insofern lassen sich im Verhalten jene Einflüsse nachweisen, die auch das Meinen, Denken und Glauben regeln, der weitgehend unbewusste Hintergrund, auf dem sich das Leben von Jehovas Zeugen abspielt.

Das Drama.

Wann habe ich mein erstes biblisches 'Drama' an einem Wachtturmkongress gesehen... Und wieviele 'Dramen' sind seither aufgeführt worden ... Und welchen Gesprächsstoff haben sie nicht geliefert in all den Jahren... Und welche Freude doch v.a. die Kinder daran haben... Und die Kostüme, die Musik... Das 'Drama' - mein Reizthema. Kaum ein anderes Element des Kongresses ist so wie das 'Drama' (ich setze es aus Respekt gegenüber dem gleichlautenden Begriff aus der Kulturgeschichte in Anführungszeichen) dazu angetan, als Knotenpunkt von Eindrücken und Einsichten zu dienen. So muss ich im Verlauf der dreiviertel Stunde zur Kenntnis nehmen, dass - wie immer auch sich die Wachtturmgesellschaft an äussere und innere Umstände angepasst hat - die Art und Weise, in der sie und damit Jehovas Zeugen über die biblischen Erzählungen nachdenken und sie verstehen, die gleiche geblieben ist. Die Bibel dient letztlich als Rezeptbuch, als Anleitung, als Gebrauchsanweisung, als Regelsammlung oder Nachschlagewerk. Sie enthält Schemata, Modelle, Formeln und Lösungen, die man anwenden kann und muss. Welches Schema passt auf welches Situation? Am liebsten im Massstab 1:1. Man muss nur ein paar Männer und Frauen in farbige Gewänder stecken und ihnen Sandalen, Perücke und hebräische Namen verpassen, dazu Posaunen und Kriegsgeschrei, Herumgerenne, ab Spule warnt eine Prophetenstimme (dieselbe wie schon vor zehn, fünfzehn Jahren), und schon wissen wir, was damals, vor zwei- oder viertausend Jahren geschah und was wir davon heute im Wohnzimmer oder an der Arbeitsstelle zu halten haben. Der biblische Gideon zeigt, wie du dir das Rauchen abgewöhnen und um die Weihnachtsfeier mit deiner ungläubigen Restfamilie herumkommst. Vorbild - Gegenbild, schau zu und lerne, wie die Bibel zu handhaben ist. Müsste ich jemandem das Spezifische der Wachtturm-Methode des Bibelverstehens und -auslegens ('Wir legen die Bibel nicht aus, sie legt sich selbst aus') beschreiben, ich würde ihm empfehlen, sich ein Kongressdrama anzusehen. Kongressdramen sind visuelle Lehrbeispiele der Bibelexegese, wie sie Jehovas Zeugen 'betreiben'. Sie machen deutlich, was in der rein verbalen Form nicht immer so offensichtlich ist. Dass diese Aufführungen auf mich ausgesprochen kitschig bis lächerlich bis peinlich wirkten (und dies schon seit je her), lag und liegt nicht so sehr an der laienhaften Darstellung (die ein Aussenstehender nur ertragen kann, wenn er sie als Realsatire auffasst), sondern (was mir erst jetzt so richtig bewusst geworden ist) am speziellen Grundmuster, dem sie folgen. Der eindimensionale und simplifizierende, banalisierende und berechnende, ahistorische und akulturelle Umgang mit der Bibel, das unterschiedslose Zusammenwerfen von Bibeltext und Wachtturm-Kommentar, die durchgängige Versachlichung religiöser Phänomene bis hin zur kruden Vermenschlichung Gottes (Jehova als Archtitekt, als Hausherr, als Chef, als Gärtner...), dieses Grundmuster wird erst so richtig deutlich, wenn man es in Szene gesetzt findet (und nicht nur hört oder liest). Nichts könnte von daher undramatischer sein als ein Drama an einem Kongress der Wachtturm- Gesellschaft.

 

Keimfreie Zone.

Nicht wenige der Eindrücke meiner seltsamen Reise in die Vergangenheit (oder war es eine Reise 'back to the future'?) bleiben auch im Nachhinein frag-würdig. In einem Punkt allerdings habe ich meine Lektion gelernt, falls es dessen noch bedurft hätte. Die schlimmste Gefahr, die wirkliche Bedrohung wittern Jehovas Zeugen nicht in der sie umgebenden weiteren Gesellschaft, obwohl sie nicht müde werden, vor deren Schlingen zu warnen. Auch wenn sie gegen alle Religion und Politik und diese ganze Welt geistig mobil machen, der potentielle Feind sitzt ihnen in den eigenen Reihen resp. geht daraus hervor. Sobald er sie verlassen hat oder verlassen musste, wird dieser 'Ehemalige' zur eigentlichen Unperson, zum Geächteten, zum weissen Fleck in der Landschaft oder zum roten Tuch. Der Abtrünnige, Abgefallene, Ausgeschlossene (so die griffigen Bezeichnungen) wird gemieden wie das Weihwasser vom Teufel. Nicht dass man ihn bekämpfen, ihn widerlegen wollte, nein ('Wir führen keine Streitgespräche und Auseinandersetzungen mit unseren Gegnern'). Man versucht mit allen Kräften, seine Existenz zu negieren, ihn sich einfach wegzudenken. Der für Jehovas Zeugen so charakteristische Umgang mit ihrer Verlustmasse (im Sinne von umgehen, aus dem Weg gehen) zeugt von einer fast pathologischen Angst vor der Aus-Strahlung eines derartigen (Menschen?-)Wesens. Es ist von der Gefahr die Rede, angesteckt, vergiftet, verseucht zu werden, wenn man es sich auch nur anhört oder es zur Kenntnis nimmt. Ich erfuhr, dass die zahlreichen Ordner Anweisung hatten, jedes Verteilen von gegnerischen Flugblättern oder Schriften auf dem gemieteten Areal ('Wir haben hier Hausrecht, das ist momentan unser Königreichssaal') strikt zu unterbinden. Zweimal wurde ich von solchen Funktionären angesprochen, wer ich sei, was ich hier wolle, was ich in meiner Tasche habe. Ein besonders Pflichteifriger kam auf mich zu, als ich während des Programms in einem Tribünengang stand und still für mich meine Notizen machte. Er beobachte mich schon längere Zeit, meinte er, fragte auch nach einem entsprechenden Ausweis, nachdem ich den Zweck meines Besuches erklärt hatte. Es gebe bei Jehovas Zeugen nichts zu untersuchen. Sie seien ganz normale Leute, die nur wegen ihres Glaubens ('wir werden ja überall gehasst') angefeindet würden. Ob ich denn wirklich kein Ehemaliger sei. Er habe so ein Gefühl gehabt. Er erkenne diese Leute von weitem. Es habe einige hier im Stadion. Wenn man sie darauf anspreche, würden sie es meistens zugeben. Das erwarte er auch. Jeder Ausgeschlossene müsse von sich aus sagen, dass er ausgeschlossen sei, damit man nicht mit ihm spreche. Sie dürften schon zuhören, müssten sich einfach ruhig verhalten und mit niemanden sprechen. Warum denn seiner Meinung nach Ausgeschlossene überhaupt einen Kongress besuchen, wo sie doch so harsch behandelt werden, wollte ich wissen.Worauf er meinte, wer einmal ein Zeuge Jehovas gewesen sei, den lasse dies sein Leben lang nicht mehr los, der komme immer wieder zurück (an den Tatort? frage ich scherzhaft). Auf mein Erstaunen hin über die Vehemenz, mit der diese Art von 'Prävention' betrieben werde, sagte er: 'Sonst hätten wir ja den Geist Satans in unserer Mitte'. Nachdem ich diesen tüchtigen Fahnder schliesslich von meinem arglosen, (rein) wissenschaftlichen Informationsinteresse habe überzeugen können, gab er Entwarnung, allerdings nicht ohne mir dringend ein Bibelstudium mit Jehovas Zeugen anzuraten, mittels dem ich sie am besten kennenlernen würde ... In der Schlussansprache brachte der hochrangige Redner das lobenswerte Beispiel einer jungen Zeugin Jehovas, die sich in der Schule geweigert hatte, einen Film über Sekten anzusehen, der während einer Unterrichtsstunde gezeigt werden sollte. Sie habe zuerst den Lehrer gefragt, ob in diesem Film auch ehemalige Zeugen Jehovas auftreten würden, und da dies der Fall gewesen wäre, habe sie ihren Entschluss dem Lehrer mitgeteilt und ihre Weigerung sogar gegenüber dem Direktor der Schule durchgesetzt. Schliesslich hätten sogar die meisten ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen sich mit ihr solidarisiert, so dass in der Folge der Lehrer auf die Vorführung des Films verzichtet habe. Die Ausführlichkeit und Bestimmtheit, mit der diese Begebenheit beschrieben (wie auch immer sie sich tatsächlich abgepielt haben mag), der hervorragende Ort, an dem sie erwähnt (die Schlussansprache als Standortbestimmung und Blick in die Zukunft) und der besondere Applaus, mit der sie aufgenommen wurde (Volkes Stimme), bestätigten mir zum Abschluss und hochoffiziell die Erfahrung, mit der ich individuell und hautnah während der drei Tage konfrontiert war: Der 'Abgefallene' ist (und bleibt) die Achillesferse der Wachtturm-Gesellschaft. Er bedroht sie durch sein blosses Dasein. Mit aller Macht und allen Mitteln, die ihr zu Gebote steht, wird sie ihn deshalb weiterhin diskriminieren, tabuisieren, verdrängen und ihre Verfahrensweise mit folgendem Zirkelschluss begründen müssen: 'Wir haben Frieden und Einheit unter uns. Abtrünnige gefährden die Einheit. Aus diesem Grunde müssen sie ausgeschlossen werden. Weil wir solche Personen ausschliessen, haben wir Frieden und Einheit unter uns'. Der 'Abtrünnige', will er noch etwas von ihr oder hat er noch eine Rechnung offen, muss sich deshalb - wie die bösen Triebe im Traum - verkleiden und verstellen. Und selbst dann hat er sich vor der Zensur, vor den Sicherheitskräften höllisch in acht zu nehmen.

Auflösung der Nebel.

Mit dem Schlussgebet weicht die Anspannung dieser drei Tage, zusammen mit dem seltsamen Gefühl von Unwirklichkeit, das mich nie ganz verlassen hat, einer Unwirklichkeit der Situation, aber auch meiner eigenen Person. Erst nach und nach wird mir klar, worauf ich mich da wirklich eingelassen hatte. Vor meiner Reise nach München war ich nervös, unsicher, unwillig. Fast hätte ich das ganze Unternehmen kurzfristig abgeblasen. Einerseits zu viele Unwägbarkeiten (wie kannst und wirst du dich verhalten, was kann und wird mit dir passieren), andererseits geringe bis keine Erwartungen (was willst Du dort eigentlich, du kennst ja schon alles). Nun stehe ich am obersten Tribünengeländer etwas abseits und lasse die Karawane an mir vorüberziehen, die Paare, die Familien, die Alten und Jungen, die ganz wenigen Einzelnen, mit ihren Sitzkissen, Picknickkörben, Büchertaschen, Strohhüten. Was lese ich in ihren Gesichtern ... Erkenne ich mich im einen oder anderen wieder ... Weiss ich noch, wie das damals war ... das Ende des Sommerkongresses wie das Ende einer kurzen, heftigen Romanze, die Vertreibung aus dem temporären Paradies, das Verdampfen der grossen Gefühle in Erwartung des schnöden Alltags, Rückkehr in die Versammlungsroutine ... Oder etwa: mit neuem Elan ans Werk, wiedererstarkt, engagiert, motiviert ... Nun stehe ich da und spüre plötzlich meine Erschöpfung: Es war - trotz aller Spannung und trotz der spielerischen Komponente - ein hartes Stück Arbeit. Abschliessendes Fazit? Noch verfrüht. Vorerst gilt: Das Ziel der Gratwanderung ohne weitere Blessuren erreicht. Den Balanceakt gemeistert. Nicht abgestürzt. Mit leicht erhobenem Haupt (nur leicht, um nicht der Sünde des Stolzes bezichtigt zu werden) wende ich meinen Blick nach langem Schauen und Staunen und Sinnen endlich vom Pfad der Gerechten ab und wieder der bösen, verurteilten Menschenwelt zu, deren Teil ich nun mal - und nicht mal ungern - geworden bin.

Appendix

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