«Die Öffentlichkeit nimmt das Problem von Sektenkindern kaum wahr» (Lier/Spiess, 2008)

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von Edith Lier/Regina Spiess


Einleitung

Kinder, die in sektiererischen Gruppen aufwachsen, und Jugendliche, die in Sekten geraten. Interview mit Esther Lenzin, Redaktion Edith Lier, infoSekta. Esther Lenzin, Psychotherapeutin und Mitinitiatorin von infoSekta tritt nach 18 Jahren Mitarbeit als Beraterin und als Vorstandsmitglied des Vereins infoSekta zurück. Ihre Aufmerksamkeit galt unter anderem den Kindern, die in sektiererischen Gruppen aufwachsen, und den Jugendlichen, die in Sekten geraten sind. Das Gespräch mit Esther Lenzin führten Edith Lier und Regina Spiess am 5. Dezember 2008.

Interview mit Esther Lenzin

infoSekta: Haben Kinder, die in Sekten aufwachsen, spezielle Schwierigkeiten?
Esther Lenzin: Wenn Erwachsene sich für eine sektiererische Gruppe entscheiden, entspricht das mitunter ihrer persönlichen Überzeugung. Wenn Kinder in eine Sekte geboren werden, müssen sie von klein auf lernen, sich an die Vorschriften, Werte und strikten Regeln dieser
Gemeinschaft zu halten. Da sie sich fast ausschliesslich unter Gleichgesinnten bewegen, haben sie praktisch keine Möglichkeiten, andere Glaubensrichtungen oder Lebensmuster kennen zu lernen, um sich später eine eigene, persönliche Meinung zu Lebens- und Glaubensfragen bilden zu können.

Gab es Gruppen, mit denen Du Dich intensiver auseinandergesetzt hast, weil es entsprechend viele Anfragen dazu gab?
Eine Gruppe, mit der ich während meiner Beratungstätigkeit oft konfrontiert wurde, sind die Zeugen Jehovas. Ihre Kinder sind zwar in der Schule für die Lehrpersonen sehr angenehm, angepasst und fallen nicht auf. Im Klassenverband sind sie aber meist Aussenseiter. Sie haben
kaum Kontakt zu ihren Kamerad/innen, verbringen ihre gesamte Freizeit in der Familie oder bei Gleichgesinnten. Dies einerseits weil die Kinder an keinen Geburtstags-, Weihnachtsfeiern und anderen Festen teilnehmen dürfen und andererseits aber auch, weil sie sich nicht mit den so genannten «Weltlichen» vermischen sollen. Auf Aussenstehende wirkt das Leben eines Kindes bei den Zeugen Jehovas recht lust- und lebensfeindlich.

Worauf gründen diese strengen Verhaltensregeln?
Die Zeugen Jehovas verstehen sich als Endzeitgemeinde, das heisst, das Ende dieser Welt ist gemäss Zeitrechnung der Zeugen in Bälde zu erwarten. Ein Zeuge ist auf dieser Welt, um sich den Platz im 1000-jährigen- Friedensreich zu verdienen. Wichtig ist, und das gilt vor allem für
Mädchen, in diesem Leben demütig zu sein, sich selbst nicht in den Vordergrund zu stellen, damit man nach der sogenannten «Schlacht bei Harmagedon» in den Himmel oder ins irdische Paradies kommt. Ich denke, dass es für Kinder der Zeugen Jehovas mit ihrer zurückhaltenden Demutshaltung ausserordentlich schwierig ist, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Kann die Gesellschaft dazu beitragen, dass diese «Sektenkinder» ihren Eltern nicht schutzlos ausgeliefert sind und in der Religionsgemeinschaft gefangen bleiben?
Kleine Kinder sind generell von ihren Eltern abhängig und ihnen damit auch ausgeliefert. So sollte das Umfeld nicht nur bei «Sektenkindern», sondern bei allen Kindern auch eine gewisse Verantwortung übernehmen.

Sprichst Du ein bestimmtes Umfeld an?
Zum Beispiel Lehrpersonen könnten genauer hinschauen, ob es einem Kind gut geht oder nicht, auch wenn die Schulleistungen stimmen und sich das Kind im Unterricht unproblematisch verhält. Aber auch Nachbarn könnten aktiv werden, wenn sie vermuten, dass Kinder physisch oder psychisch missbraucht werden. Leider scheuen sich heute viele, vorbeugend Schritte zur näheren Abklärung in die Wege zu leiten. Niemand will Ärger mit den Nachbarn oder in ein zeitlich aufwändiges Verfahren verwickelt werden.

Was rätst Du Verwandten oder anderen Bezugspersonen, die sich Sorgen um die Kleinen machen?
Wenn möglich, sollen sie den Kontakt zum betroffenen Kind aufrechterhalten oder gar intensivieren. So bekommt es die Möglichkeit zu erleben, wie andere Familien, die andere Wertvorstellungen haben, miteinander umgehen. Diese Kontakte erfordern sehr viel Feingefühl,
damit weder beim Kind noch bei dessen Familie ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle entstehen.

Wie reagiert die Öffentlichkeit auf das Schicksal von «Sektenkindern»?
Es gab immer mal wieder Situationen, das betrifft aber nicht die Zeugen Jehovas, in denen ich mich fragte, warum Schul- und andere Behörden nicht hartnäckiger nachfragten, wenn es darum ging, dass Eltern ihre Kinder bei der Schulbehörde und die ganze Familie sich gleichzeitig bei
der Einwohnergemeinde abmeldeten. Bei «Sektenkindern» besteht neben der Abhängigkeit von den Eltern auch eine Abhängigkeit von den «Ältesten» (bei den Zeugen Jehovas), von der Gruppe, den Regeln und den Zielen der Gruppe. Um dieses zusätzliche Ausgeliefertsein zu
verstehen und im entsprechenden Fall handeln zu können, ist eine gezielte Aufklärung in der Öffentlichkeit betreffend den Zeugen Jehovas, aber auch in Bezug auf Abhängigkeiten in sektenhaften Gruppen sehr wichtig.

Können Gesellschaft oder Politik «Sekteneltern» dazu bewegen, ihr Regime zu lockern? Immerhin protestiert mittlerweile die Öffentlichkeit, wenn Zeugen Jehovas eine notwendige Bluttransfusion verweigern, besonders wenn das Leben von Kindern auf dem Spiel steht.
In der Schweiz gilt die Religionsfreiheit. Mittlerweile wird aber tatsächlich öfter Kritik laut, wenn Jehovas Zeugen aus religiöser Überzeugung eine Bluttransfusion für ihr Kind ablehnen mit dem Risiko, dieses sterben zu lassen. In gewissen Fällen schreiten die Behörden ein, jedoch letztlich meist ohne Erfolg. Vermehrt berufen sich Ärztinnen und Ärzte auf ihren hippokratischen Eid, Leben zu retten, und halten sich daran.

Warum stellen sich die Zeugen Jehovas so vehement gegen jegliche Bluttransfusion?
Für die Zeugen Jehovas-Eltern ist das Kind, dessen Blut nicht mehr (Jehovas Zeugen-)rein ist, für das ewige Friedensreich verloren. Das heisst, dass dieses Kind oder diese Person in der Schlacht von Harmagedon sterben würde, da nur «reine» Jehovas Zeugen diese überleben und ins Paradies eingehen können.

Aussenstehende können sich schwer vorstellen, dass sich Kinder von der religiösen Gemeinschaft je lösen und sich eigenständig entwickeln und entfalten können.
Für Kinder, die bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen sind und nichts anderes kennen, ist es sehr schwierig, sich von der Gruppe zu lösen. In der Gemeinschaft sind sie aufgehoben, die Mitglieder sind füreinander da, der Umgang untereinander wirkt liebevoll. Die Gruppe hat ein
gemeinsames Ziel: zu missionieren. Kritik ist unerwünscht und zwischenmenschliche Konflikte sind sekundär. Bei Mitgliedern, die aussteigen möchten, geht meist ein längerer Prozess voraus, der von unzähligen Zweifeln und Ängsten begleitet ist: Ist es richtig, sich von dieser Gemeinschaft zu trennen? Werde ich dadurch wirklich nicht ins Paradies eingehen? Und werde ich meine Eltern und alle meine jetzigen Freunde verlieren und enttäuschen?

Kann eine psychologische Begleitung den Weg des Ausstiegs unterstützen und erleichtern?
Ein Ausstieg bedeutet als erstes meist eine soziale Isolation, da bei den Zeugen Jehovas jeglicher Kontakt zu den Aussteigern (Abtrünnigen) abgebrochen wird. Das geht so weit, dass sie etwa auf der Strasse nicht mehr gegrüsst werden dürfen – das heisst, sie sind inexistent. Sind sie dann ausgestiegen, müssen sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, sie müssen sich eigene Wertvorstellungen erarbeiten, eigene Entscheidungen fällen, eigene Freunde finden und auch ihre Freizeit selbst gestalten. Diese Übergangszeit ist schwierig auszuhalten. Und die Gefahr, in eine nächste Abhängigkeit zu geraten, ist gross. Eine psychologische Begleitung in dieser Situation ist sicher hilfreich.

Und wenn ehemalige Anhänger die Sekte endgültig verlassen haben, besteht die Gefahr, für den Rest des Lebens von einem schlechten Gewissen verfolgt zu sein?
Die Schuldgefühle sowohl bei den Ausgestiegenen als auch bei deren Eltern sind gross. Die Ausgestiegenen haben das Gefühl, dass sie die Gruppe und die Eltern enttäuscht haben. Die Eltern wiederum denken meist, dass sie in der Glaubenserziehung versagt haben, was sich auch wieder in ihrem Kontakt zur Gruppe niederschlägt.

Kann es zu einer Versöhnung zwischen Kindern und Eltern kommen?
Ich denke, bis zu einem gewissen Grad kann es eine Versöhnung geben. Ich kenne Familien, die sich wieder treffen. Meist ist es aber so, dass die Beziehungen etwas distanziert sind und dass bestimmte Themen, wie z.B. Glaubensthemen, vermieden werden.

Es gibt ja auch Jugendliche oder junge Erwachsene, die gegen den Willen ihrer Eltern in eine sektiererische Gruppe geraten. Was rätst Du den Eltern, gibt es für sie Möglichkeiten, ihre Schützlinge aus einer Sekte herauszuholen?
Grundsätzlich haben die Eltern das Recht, über den Wohnort des Kindes zu bestimmen, bis es volljährig ist. Praktisch ist es aber unmöglich, einen Jugendlichen zu Hause anzubinden oder einzusperren. Ich rate den Eltern, dass sie mit den Jugendlichen sprechen und dass sie versuchen herauszufinden, was ihnen in dieser Gruppe so gefällt, was sie fasziniert, warum sie sich dort so wohl fühlen. In den Beratungsgesprächen wird manchmal auch klarer, warum sich der betroffene Jugendliche diese Gemeinschaft ausgesucht hat, was er im Leben sucht oder auch was ihm Mühe macht. Wichtig ist auch, dass andere, frühere Interessen und Beziehungen aktiv bleiben, dass die betroffenen Jugendlichen mit Geschwistern oder «früheren Freundinnen und Freunden» wieder einmal ins Kino oder an eine Party gehen, ein Konzert besuchen, mit den
Eltern eine Velotour machen etc. Ist die Abhängigkeit aber bereits sehr fortgeschritten, hat der/die Betroffene den Kontakt zum früheren Umfeld meist ganz abgebrochen.

Wie lange sollen Angehörige von Sektenmitgliedern für die Betroffen kämpfen?
Es gab immer wieder Beratungsgespräche, in denen ich an eine Grenze kam. Irgendwann müssen die Ratsuchenden, auch wenn es schwer fällt, akzeptieren, dass der Betroffene sich für diese Gruppe entschieden hat. In diesen Fällen konnte ich den Ratsuchenden nur versichern, dass sie wirklich alles Erdenkliche versucht haben, den Betroffenen aus der Gruppe herauszuholen, und dass sie sich jetzt vielleicht wieder vermehrt auf das eigene Leben und die eigene Zukunft konzentrieren sollten. Es ist sehr verfänglich in der Wut auf die Gruppe stecken zu bleiben.

Können sich langjährige ehemalige Mitglieder eingestehen, ihre Kindheit an eine Sekte «verloren» zu haben?
Es ist ja nicht so, dass sie während der Zeit in der Gruppe nichts erleben. Die Gruppe verhindert selbständiges Denken und Handeln. Das müssen sie sich später selbst erarbeiten und vielleicht auch einiges nachholen. Während der Ablösungsphase spüren sie Wut über die Abhängigkeiten. Ehemalige thematisieren diesen Prozess eher selten, entweder ist dieser Aspekt gut verarbeitet, oder aber man darf sich diese Frage in dieser Art vielleicht gar nicht stellen. Aber auch Menschen ausserhalb des Sektenumfelds sind angesprochen. Denn bei allen Menschen gibt es wohl Ereignisse und Erlebnisse, die anders hätten verlaufen können.

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