Sekten im Endzeitfieber (Sträuli, 1999)

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von Dr. Dieter Sträuli


Ein Verlöschen gegen den Anfang hin

In Werner Bergengruens Erzählung "Legende von den zwei Worten“ heisst es von Herzog Heinrich von Bayern, dieser habe die Angewohnheit gehabt, regelmässig in einer abgelegenen Waldkapelle zu beten. Als er auf einem Ritt durch sein Land einmal mehr an diesem Ort vorbeikam, liess er seine Begleiter zurück. Diese sorgten sich um ihn, weil seit einiger Zeit Feinde des Herzogs nach dessen Leben trachteten. Im Innern der Kapelle war es dunkel. Heinrich kniete nieder und las in seinem Stundenbuch. Beim Lesen stachen ihm ähnlich klingende Sätze in die Augen wie: „Auf jenen Tag wird Gott als der gerechte Richter dir die hinterlegte Krone der Gerechtigkeit geben,“ und: „Wer in der Anfechtung aushält, wird die verheissene Krone des Lebens empfangen“. Der Herzog, ein frommer Mann, sah in diesen Sätzen Hinweise auf seinen Tod und schauderte. In diesem Augenblick schreckte ihn eine Stimme aus seiner Versenkung: er möge hinter sich blicken.
 Er drehte sich um und gewahrte einen in einen weiten Mantel gehüllten Mann, der eben vor ihm zurückwich und die Kapelle verliess. Bevor der Herzog Zeit fand, sich von seinem Schrecken zu erholen, erblickte er an der Wand neben dem Ausgang eine dunkelrot leuchtende Schrift. Sie umfasste wohl mehrere Zeilen, erlöschte jedoch rasch von ihrem Ende her gegen den Anfang hin. Das verwirrte ihn, so dass er nur die ersten beiden Wörter der Botschaft zu lesen vermochte, bevor auch diese vergingen: „Nach sechs…“ 
Wie schlafwandlerisch kehrte der Herzog zu seinen Begleitern zurück. Die Worte, dessen war er sich sicher, kündigten seinen nahen Tod an. Er ging davon aus, dass er noch sechs Tage zu leben habe. Nachdem er sich gefasst hatte, setzte er seine Reise zum nächsten Ort fort und empfing dort Bittsteller und Würdenträger. Aber der Abend des sechsten Tages ging vorüber wie viele vorher auch, und der Herzog sagte sich, dass wohl sechs Wochen gemeint gewesen seien in dem Flammentext. Nun hatte er Zeit, nach Hause zurückzukehren und seine Familie noch einmal zu sehen. Aber auch die Mitternacht des letzten Tages nach sechs Wochen brachte seinen Tod nicht, sodass er sich auf das Sterben in sechs Monaten vorbereitete – allerdings nicht mehr mit derselben Hingabe wie bisher. Es war, wie wenn er geahnt hätte, dass er sich auch dieses mal täuschen werde. Denn natürlich gingen auch die sechs Monate vorbei, ohne dass etwas Besonderes geschehen wäre. Alle aber, die in dieser Zeit mit Herzog Heinrich zu tun hatten, bemerkte eine grosse Veränderung an ihm und fragten sich, was wohl deren Ursache sei.
 Als die sechs Jahre um waren, hatte der Herzog seinen Glauben und seine Todesgewissheit wieder gefunden. Von grosser Ruhe erfüllt und im Bewusstsein, mit seiner Umgebung im Reinen zu sein, stieg er, nachdem er die Sakramente empfangen hatte, in ein Turmzimmer hinauf, von dem aus er in alle vier Himmelsrichtungen blicken konnte.
 „Es ging schon gegen Abend, und die Sonne hatte einen rötlichen Glanz angenommen, da gewahrte er in der Ferne, von Norden her, eine starke Staubwolke auf der ebenen Strasse und er erkannte, dass er diesen Reitern entgegenzugehen hatte. … Sie kamen rasch näher, doch lag der rote Schein der späten Sonne so gewaltig auf ihren Rüstungen und Waffen, ihren Bügeln und Zaumzeugen, dass er nichts im einzelnen wahrnehmen konnte, sondern es war eine einzige leuchtende Herrlichkeit, welche immer näher kam. Heinrich aber war so geblendet und so entrückt, dass er nicht mehr spürte, wie seine Füsse über den Boden gingen. Er schritt dem Glanz entgegen wie ein Geist, der aller Kraft der Schwere entnommen ist, und er wusste auch nicht mehr, dass er seinem erwarteten Tode entgegenging. Vielmehr war es ihm, es liege sein Tod bereits hinter ihm und er sei aufgenommen in eine ungeheure Glorie.
 Er fuhr zusammen, da er die Reiter hart vor sich sah. Einige schrien auf, ein Horn blies. Die Pferde standen, Männer sprangen aus den Sätteln. Einer sagte sehr laut: „Nach sechsstimmig geschehener Beschliessung der sechs Kurfürsten laden wir dich, Heinrich von Bayern, nach Aachen, die Krone des Heiligen Römischen Reiches zu empfangen.“ 
Es heisst dann noch, Kaiser Heinrich habe durch mehrere Jahrzehnte regiert und sei ihn hohem Alter ruhig gestorben.

Die Zeit macht neurotisch

IIn dieser eindrücklichen Geschichte lebt ein Mensch ganz in Erwartung seines Endes. Er übersieht dabei, dass die zerrinnende Zeit auch eine Art Countdown für einen Neuanfang bedeuten kann. Dass er es übersieht, macht ihn menschlich und spricht für seine Bescheidenheit. Er hätte das hohe Amt, das ihn erwartete, nicht von sich aus angestrebt. 
Die Geschichte zeigt aber auch, wie schwer es ist, Zeichen zu lesen. Der Tod ist gewiss, die Stunde aber ungewiss, sagt ein römisches Sprichwort. Der Herzog durchlebt alle Spannen bis zum antizipierten Tod: Er lernt, was es heisst, noch sechs Tage, sechs Wochen, sechs Monate und sechs Jahre zu leben. Und zum Schluss reitet er direkt auf seinen vermeintlichen Tod zu.
Wer die Geschichte liest, denkt vielleicht: Ich selber hätte nicht diese Gelassenheit an den Tag legen können. Denn Zeit macht Angst. Es ist uns am wohlsten, wenn wir sie, die Zeit, nicht spüren, sondern zeitlos leben können. Warum ist das so? Beginnen wir ganz am Anfang. Sigmund Freud würde die Ursache für unsere Schwierigkeiten mit dem Zulassen von Zeit – dem Phänomen, dass die Dinge aus der Zukunft auf uns zukommen, ständig an uns vorbeiströmen und schliesslich, verloren und unerreichbar in der Vergangenheit hinter uns liegen – in eben diese Vergangenheit legen.
 Sehnsüchtige Erwartung gehört zu unserem Leben. Die erste und eine der heftigsten Erwartungen ist sicher die des Kindes, welche es auf die Brust als Nahrungsquelle richtet. Es ist hilflos und auf die Bewegungsfreiheit reiferer Artgenossen angewiesen. Erst innerhalb einiger Lebensjahre lernt es, sich selber zu helfen, dank einer immer besser funktionierenden Orientierung in der Welt und einem Körper, der es dorthinträgt, wo es hinwill.
Aber das Leben hienieden ist kein Honiglecken. Auch wir Erwachsenen träumen deshalb wie die kleinen Kinder von der Erfüllung unserer Sehnsüchte, wenn uns mangelt. Träume, Fantasien, Halluzinationen springen im Umgang mit einer oft bitteren Realität da und dort helfend ein. Lust- und Realitätsprinzip regieren gemeinsam unser Verhalten.
 Zur quälenden Erwartung kommt als Zweites die plötzliche Erkenntnis der eigenen Endlichkeit hinzu. Einem kleinen Kind, das statt einzuschlafen lange weinte, konnten die Eltern nach vielem Bemühen schliesslich die Erklärung abringen, es müsse immer daran denken, dass es einmal sterben werde. Nach dieser einen Nacht war der Schrecken fürs erste ausgestanden und wurde aus dem Kind ein fröhlicher Mensch, welcher sich ganz den Sonnenseiten des Lebens zuwandte. Aber das Wissen um den eigenen Tod – vielleicht liegt in ihm sogar die eigentliche Bedeutung des philosophischen Begriffs „Bewusstsein“ – kehrt periodisch wieder und schreckt uns dann so lange, bis es uns gelingt, es wieder zu verdrängen. Nicht nur die Erfüllung, sondern auch unsere zukünftige Vernichtung ist (nur) eine Frage der Zeit. Hier sind wir auf das Grundgestein der Neurose gestossen. Das Reale – Tod, Geschlecht, Schmerz und Gewalt – kommt unablässig auf uns zu wie der Bug eines Kriegsschiffes. Auf welche Seite dieser scharfen Kante gedenken wir auszuweichen? Es ist unsere Lebensgeschichte, welche uns eine persönliche Wahl nahelegt – auf der einen Seite wartet die Hysterie, welche dazu neigt, alles Trennende zu verleugnen oder in eine romantische Verschmelzung mit dem Absoluten umzudeuten. Dafür wird sie vom Phantom der Ungewissheit aller Bindungen gequält, denn das Verdrängte kehrt immer in irgendeiner Weise wieder. Die andere, die zwangsneurotische Seite, anerkennt zwar die Macht des Todes, glaubt aber, sie durch ein Totstellen täuschen zu können. Wenn ich nichts begehre, erscheine ich nicht lebendig und wird mich der Tod weder finden noch ereilen, scheint der Zwangsneurotiker zu argumentieren. Deshalb verharrt er in ewiger Warteposition kurz vor dem Erlangen der eigentlich ersehnten Befriedigung, welch letztere er mit der Auslöschung seines „Ich“ gleichsetzt.
Es ist fast unmöglich, den Manifestationen des Realen tapfer und frontal zu begegnen, ohne eine Pose einzunehmen. Selbst Herzog Heinrich in unserer Geschichte macht sich, so tapfer er sich ins Unvermeidliche schicken will, eines neurotischen Manövers schuldig: Er richtet sein ganzes Dasein auf die grösste denkbare Gefahr aus, und wird so völlig blind für eine lebensbejahende Lesart des "Nach sechs…“ Es ist tatsächlich die Zeit, die uns neurotisch macht. 

Exkurs: Zum Begriff der Sekte

Der Begriff „Sekte“ ist je länger je mehr umstritten. Sicher kann es nicht darum gehen, konkrete Gruppen in die zwei angeblich eindeutigen Kategorien „Sekten“ und „Nicht-Sekten“ einzuteilen. Sektierertum ist so etwas wie eine Neurose kleiner und grosser Gruppen. Vom Liebespaar und der Familie bis hin zu ganzen Nationen kann prinzipiell jede Gruppe Gefahr laufen, Opfer einer Entwicklung hin zu Sektierertum zu werden. Wichtige Symptome sind Hierarchisierung, Abschottung gegen aussen, Schwarz-Weiss-Denken. Vorherrschende Phantasien betreffen die eigene Auserwähltheit und Mission zur Rettung der Welt, die Illusion überereinstimmender Bedürfnisse zwischen Führung und Mitgliedern, den Anspruch auf Besitz der göttlichen Wahrheit und eines Mittels bzw. Rezeptes gegen alles Böse, Kranke, Gefährliche. Die Etikettierung von Gruppen als Sekte ist insofern problematisch, als sie diese noch tiefer in eine Abwehrhaltung der Welt gegenüber hineintreiben kann, statt die Möglichkeit zur Öffnung nach aussen zu fördern. Denn die erwähnte Entwicklung ist reversibel.

Sekten, Prophetinnen, Verschwörungstheoretiker

Was wir an neurotischen Verhaltensweisen an den Tag legen, ohne es uns einzugestehen, erkennen wir mit grosser Leichtigkeit und Klarheit an anderen. So sind Sekten heute oft Träger kultureller und existentieller Auseinandersetzungen – Träger im Sinne einer symbolisierenden Verkörperung. Für die Öffentlichkeit müssen sie manchmal regelrecht herhalten als Protagonisten und Opfer psychodynamischer Prozesse, auf die uns wir uns nicht einzulassen wagen – weil wir zu "realistisch" sind oder Angst davor haben, uns lächerlich zu machen. Aus sicherer Distanz blicken wir dann fasziniert auf das Schicksal solcher Gruppen, die ganz offen Dinge tun, von denen wir nur träumen können. 
Werfen wir einen Blick auf einige exemplarische Gruppen und Phänomene aus dem Feld der Endzeiterwartung:

  • Wir kennen die Zeugen Jehovas, die uns in Fussgängerzonen den „Wachtturm“ entgegenhalten oder uns am Sonntagmorgen zu zweit besuchen. Ihr Gründer, der amerikanische Geschäftsmann Charles Taze Russell, verkündete mehrere Male, die vierzigjährige Endzeit habe begonnen und Christus werde wiederkehren (1914, 1918, 1925, 1975). Heute geht die Gruppe vorsichtiger mit konkreten Jahreszahlen für das Weltende um. Ein weiteres Berechnungsproblem betrifft die 144 000 Auserwählten, die am Jüngsten Tag ins Paradies aufgenommen werden: Die Zahl der Mitglieder übersteigt inzwischen weit diese magische Zahl der 144 000, sodass neue Interpretationen der betreffenden Bibelstellen nötig wurden.
  • Erika Bertschinger, besser bekannt als Uriella, hat mit ihrer weiss gewandeten Gruppe Fiat Lux ebenfalls einige Bekanntheit in Deutschland und der Schweiz erlangt. Als „Sprachrohr Gottes“ leiht sie den Endzeitängsten und hoffnungen der Mitglieder ihre tiefe Trancen-Stimme und spricht von Asteroiden, Weltkriegen und Sintfluten, die ein Umziehen in höhergelegene Regionen Süddeutschlands ratsam werden lassen. Uriellas leicht groteskes, aber gleichzeitig auch sehr lebhaftes und telegenes Auftreten in Fernseh-Talkshows könnte dem Gefühl der Gruppe entgegenwirken, die Bewegung sei in der übrigen Gesellschaft isoliert und werde verfolgt.
  • In katholischen Kreisen spielt die Botschaft Marias von Fatima eine grosse Rolle. Wie andere Marienbotschaften (z. B. diejenige von La Sallette) spricht auch sie von kommenden Kriegen und gewaltigen Zerstörungen, von der Bedrohung durch Satan bzw. den Antichristen (der immer wieder mit dem Kommunismus und mit Russland in Verbindung gebracht wird), und wie erstere enthält sie als festes Element die Klage über den Abfall der Regierungen oder sogar des Klerus vom traditionellen Glauben und die Ankündigung harter Strafen.
  • In Esoterikkreisen werden die Prophezeiungen  des Nostradamus gelesen und intensiv diskutiert. Mit ihrem Symbolismus und ihrer elliptischen Syntax setzen sie dem Hineindeuten keinen Widerstand entgegen. Die 44. Zenturie lautet zum Beispiel: „Wenn das Tier dem Menschen untertan/Nach grossen Leiden und Sprüngen wird zu sprechen anheben/Vom Rutenblitz (fouldre à vierge oder verge, unklar) wird so bösartig sein/Von der Erde aufgehoben und in der Luft aufgehängt.“ In diesem Vierzeiler sei von der Entdeckung der Elektrizität oder von drahtloser Telekommunikation die Rede, meint eine Interpretin.
  • In denselben Zirkeln werden unter der Hand Bücher über die „Neue Weltordnung“, die „Bilderberger“ und „die Insider“ herumgereicht, etwa die Bücher von „Jan van Helsing“ (Jan Udo Holey) oder sogar das Machwerk „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Solche Texte transportieren Verschwörungstheorien, die früher ganz offen antisemitischer Natur waren und diesen rassistischen Charakter heute nur dadurch kaschieren, dass in ihnen allein von Illuminaten, Freimaurern und Geheimdiensten die Rede ist. Die Eingeweihten wissen aber ganz genau, wer in dieser Aufzählung mitgemeint ist: das „jüdische Kapital“. Als ein wirres Gemisch aus UFO-Theorien (wussten Sie, dass Hitler in der Antarktis eine Hightech-Basis hat und  dass die UFOs, die gesichtet werden, von dort kommen und Hakenkreuze tragen?), aus Frustrierten-Psychologie (mit Verschwörungstheorien versuchen Entlassene das Verhalten ihrer früheren Firma zu erklären) und Okkultismus wirken diese Texte oft so, als seien sie von Leuten konstruiert, die sich nicht wirklich für Esoterik interessierten, sondern mit ihnen ganz bestimmte politische Absichten verfolgen. Solche Publikationen sollen gesellschaftliche und staatliche Strukturen destabilisieren, den Spaltpilz des Misstrauens gegen Regierung und bestimmte Bevölkerungsgruppen säen und eine allgemeine Untergangsstimmung verbreiten. Als tieferliegendes Motiv könnte man ihnen in einer Zeit, in welcher die meisten Regierungen und globalen Organisationen an der Lösung der dringendsten Probleme der Welt verzweifeln und in vielen Dingen zerstritten sind,  eine unbewusste Sehnsucht nach einer mächtigen Institution unterstellen, welche im Verborgenen die Fäden zieht – lieber eine böse Macht als gar keine.
  • UFOs überwinden die Erdenschwere: „Ach, dass doch wer käme und mich mitnähme!“ klagt der müde Junge Fingerhut im gleichnamigen Gedicht von C. F. Meyer. Und „Swing low, sweet chariot, coming for to carry me home…“ heisst es in einem Spiritual: „Lass dich zu mir nieder, süsser Wagen, der du kommst, mich heimzuholen“. Niedergedrückt von der Last unserer Sorgen (und auch durch die natürliche Erdanziehung) wünschen wir uns, abgeholt und zu jenen Sphären getragen zu werden, in welchen der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wunschträumen auf wunderbare  Weise aufgehoben ist. 
    Der UFO-Mythos wurde 1947 geboren, wenn man einmal davon absieht, dass Menschen immer schon hoffnungsvoll zum Himmel aufgeblickt haben. Bereits in den 50er Jahren war ein komplexes Gedankengebäude beisammen, das christliche, technologische, paranoide und Endzeit-Elemente umfasste. Aus diesem riesigen Angebot picken einzelne Endzeitgruppen nur ganz wenige Motive heraus. Typisch ist die Vision einer gigantischen UFO-Flotte, welche sich am Jüngsten Tag der Erde nähert, um die Gläubigen abzuholen. Danach geht die Welt unter. „Die Türen der kugelförmigen Raumschiffe werden sich nur für diejenigen öffnen, welche den rechten Glauben haben, „ verkündet z. B. Uriella.
  • Ähnliche Ankündigungen über ausserirdische Rettungs-Shuttles machen die „Prophetin“ Gabriele Wittek von der Universalen Kirche in Deutschland sowie Paul Kuhn von der St. Michaelsvereinigung in Dozwil TG. (Material z. T. bereits aus den 50-er Jahren versammelt das Buch „Evakuierung in den Weltraum“, herausgegeben von den Vorstehern der deutschen UFO-Gruppe DUIST, Karl und Anny Veit.)

Der Reigen um den letzten Tag

Dass uns die sogenannten Sekten faszinieren, haben die Medien entdeckt. Es wäre billig, ihnen zu unterstellen, dass sie nur auf eine Steigerung der Auflagenzahlen aus seien – wir Konsumentinnen und Konsumenten reissen ihnen die Blätter aus den Händen, wenn ein neues Sektendrama die Schlagzeilen füllt. Auf unser Thema bezogen, könnte man sagen: Sekten sind die Dramaturgen unseres Zeiterlebens.
Wenn wir das gesamte Feld jener Gruppen betrachten, die Endzeit zu ihrem Thema gemacht haben, so scheinen sie eine Art Reigen um den jeweils gerade aktuellen Termin für das Weltende aufzuführen. Ihr „choreographisches Verhalten“ solchen Terminen gegenüber ist aber ganz unterschiedlich. Drei Kategorien von Verhalten lassen sich unterscheiden: 

 

  • Die einen – z. B. die Zeugen Jehovas – leben wie Herzog Heinrich in der Erwartung immer wieder neuer angekündigter Termine. Diese Daten sehen sie in einem synkopenhaften Rhythmus auf sich zukommen, und sie durchqueren sie, ohne dass das Erhoffte/Gefürchtete je einträfe.(1) Sie scheinen sich an diesen wechselhaften Zustand irgendwie gewöhnt zu haben.
  •  Andere Gruppen verharren wie der grösste Teil der Christen und wie das Gros der Esoterik-Szene in einer mehr oder weniger diffusen Heilserwartung, spielen vielleicht ab und zu mit bedeutsamen astrologischen Konstellationen oder anderen Anzeichen, hüten sich aber festzulegen, was an solchen privilegierten Terminen genau zu geschehen habe und sprechen mehr von längeren „Phasen der Wandlung“ als von einzelnen Tagen.
  •  Für eine dritte Kategorie wird die Endzeiterwartung zur tödlichen Falle. Ihr Wunsch, dass sich die Vorhersage erfülle, ist stärker als der Wille zum Überleben. Die Gruppe hilft deshalb der Erfüllung mit Gift oder Waffengewalt nach. Bekannte Beispiele sind die 931 Toten des „Peoples’ Temple“ in Britisch Guayana, die Sonnentempler in der Schweiz, in Frankreich und Kanada sowie das Ende der Gruppe „Heaven’s Gate“ in San Diego. Für Ehrfurcht ob soviel Festigkeit im Glauben ist allerdings kein Anlass. Die Ermittlungen der Walliser Kantonspolizei haben ergeben, dass von 53 toten Sonnentemplern in Frankreich und der Schweiz deren 38 von anderen Mitgliedern ermordet wurden. Unter ihnen waren fünf Kinder im Alter von 3 Monaten und 2, 4 bzw. 12 Jahren.

Exkurs: Zu Sektendramen

Wie kann man erklären, dass Menschen solche Dinge tun? Zur Erklärung müssen viele Faktoren herangezogen werden. Jahrelange Indoktrination ist nötig. Ein immer wiederkehrendes Element solcher Indoktrination ist eine systematische Umdeutung von Wörtern wie „Tod“ und „Ende“ in beschönigende Ausdrücke wie „Reise“ oder „Übergang“. Parallel dazu wird „Körper“ umgedeutet in „Gefäss“, oft mit Assoziationen wie „unwichtig“ und „schmutzig“. Hinter solchen Abwertungen der eigenen Leiblichkeit stehen letztlich gnostische Vorstellungen.
 „Passage à l’acte“ nennt die französische Psychiatrie eine meist psychotisch motivierte Impulshandlung. In unserem Kontext passt dieser Ausdruck „Übergang zum Handeln, zur Tat“ auf eine gefährliche Phase im Verhalten von Endzeit-Sekten, nämlich auf den Augenblick, in welchem sie sich bewaffnen, mit Notvorräten eindecken, die Fenster mit Brettern vernageln oder ihre Koffer packen. In dieser Phase richten sie sich auf eine Belagerung durch ihre Feinde ein oder treffen Reisevorbereitungen für’s Paradies. Oft wird diese Phase durch einen paranoiden Schub der Führerperson ausgelöst. 
Das wäre jeweils der Moment, in welchem ein Eingreifen durch Behörden und Polizei angezeigt wäre. Die Schwierigkeiten für ein solches Eingreifen sind jedoch beträchtlich. Erstens geschehen solche Vorbereitungen meist im Verborgenen, und wenn nicht ein Gruppenmitglied oder dessen Angehörige Alarm schreien (wie im Falle der Teneriffa-Gruppe unter Heide Fittkau-Garthe im Januar 1998), dann erfährt oft niemand von derartigen Alarmsignalen. Eine Überwachung rund um die Uhr ist überdies aufwendig und tangiert freiheitliche Grundrechte. Deshalb ist eine grundsätzliche Aufklärung der Bevölkerung und vor allem der Gruppen selbst so wichtig.

Endliche und unendliche Geschichte

Die Astrophysiker streiten sich um zwei Modelle des Universums: Entweder gab es vor Milliarden von Jahren einen Urknall und wird es dereinst einen weiteren geben, oder aber das Universum dehnt sich ständig weiter aus  in eine Unendlichkeit von Raum und Zeit hinein. Beide Versionen können in uns kurzlebigen Menschen ein Gefühl der Leere oder des Schwindelns erzeugen. Für das Universum in der Sicht der Naturwissenschaften spielt es offensichtlich keine Rolle, ob wir da sind oder nicht und was wir über es denken.
 Etwas Ähnliches gilt für die Menschheitsgeschichte. Auch sie belastet uns mit ihrer Unfassbarkeit. Bis hin zur Aufklärung war sie eine Heilsgeschichte und folgte sie Gottes Plan. Heute fällt es uns immer schwerer, Muster und Regeln in ihr zu erkennen. Sicher ist, dass ihre Abläufe und Verwicklungen nie auf einzelne Ursachen zurückzuführen sind. Geschichte ist eine Angelegenheit für die Chaostheorie geworden.
 Der Gedanke, dass diese unsere Geschichte mit all ihren gegenwärtigen Bedrohungen und Schwierigkeiten nochmals tausend Jahre in der gleichen Art und Weise andauern könnte, kann einen schon entmutigen. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass Menschen immer wieder eine andere Art von Geschichte gewünscht haben:

  • lieber ein Stillstehen und Innehalten und ein vorheriges Sich-Überstürzen dramatischer Ereignisse als ein ewiges Weiterfliessen in chaotischen Wirbeln; 
  • lieber ein Ende mit Schrecken (d. h. ein Weltuntergang, eine Weltkatastrophe) als gar keines, vielleicht sogar ein Ende ohne Wenn und Aber;
  • lieber ein Aufdecken des Chaos, das offenbar alles regiert, als ein Weiterleben in der Illusion einer Ordnung. Am liebsten aber ein Sichtbarwerden der verborgenen Ordnung hinter allen Geschehnissen, ein Zusammenlaufen der Fäden zu einem einzigen Punkt, ein Wiedereinsetzen des göttlichen Planes für die Welt.

Auffällig ist, wie viele Geschichtsmodelle im Bereich der Endzeitwarnungen ein absurd wirkendes Gemisch postulieren: Einerseits werden Anzeichen für ein immer stärkeres Abgleiten der Welt ins Chaos beschworen, andererseits wird gerade dieses Chaos als Element der näherkommenden Offenbarung (apo kalypsis) mit ihrer göttlichen Ordnung gedeutet. Solche Widersprüche zeigen, dass wir uns im Feld des Mythos bewegen.
 Endzeit- und Katastrophenszenarien sind nicht zuletzt auch narzisstische Grössenphantasien. Die Untergangspropheten entwerfen destruktive Monumentalgemälde und schwelgen in einer eigentlichen „Lust am Untergang“. Diese Lust wird vor allem sichtbar im Genre der Katastrophenfilme, welche die Erde mit Asteroiden und Komenten bombardieren, Grossstädte mit Vulkanen und Erdbeben in Trümmer legen, Seuchen auf die Menschheit loslassen und sie zuletzt durch megalomane Aliens versklaven. Natürlich hat auch dieses Genre eine literarische Tradition: vor allem Bücher über das im Meer versunkene Atlantis oder die Werke von Immanuel Velikovski („Welten im Zusammenstoss“) gehören in dieses Regal. Psychologisch gesehen, könnte man als sterblicher und den Naturgewalten ausgesetzter Mensch auch eine „Identifizierung mit dem Angreifer“ vermuten.

 

Fussnote

(1) Wer mehr darüber wissen will, wieso diese Fehlschläge bei den Mitglieder nicht immer zu einer Glaubenskrise führen, befasse sich mit Festingers Theorie der „kognitiven Dissonanz“ (Festinger et al. 1956). In diesem Zusammenhang schliesst Festinger: Alle Mitglieder, die sich im Moment des Fehlschlagens einer Voraussage im Schoss der Gruppe aufhalten, haben die Möglichkeit, gemeinsam Argumente zu erarbeiten, warum es so kommen musste. Wer aber in diesem Augenblick isoliert ist, neigt eher dazu, den Fehlschlag tatsächlich als solchen zu erleben, daraus die Konsequenzen zu ziehen und die Gruppe zu verlassen.

Literatur

Bergengruen, Werner. (1946). Legende von den zwei Worten. In Die Sultansrose und andere Erzählungen. Basel: Schwabe.

Festinger, Leon; Riecken, Henry W. & Schacter, Stanley. (1956). When Prophecy Fails. A Social and Psychological Study of a Modern Group that Predicted the Destruction of the World. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Gasper, H. & Valentin, F. (1997). Endzeitfieber. Apokalyptiker, Untergangspropheten, Endzeitsekten. Freiburg Br.: Herder

Gugenberger, Eduard; Petri, Franko & Schweidlenka, Roman. (1998). Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts. Wien: Deuticke.

Leona, G. S., Veit, Karl & Veit, Anny (DUIST) (Hrsg.). (1987). Evakuierung in den Weltraum. Wiesbaden: Ventla.

Stamm, Hugo. (199). Im Bann der Apolakypse. Endzeitvorstellungen in Kirchen, Sekten und Kulten. Zürich: Pendo.

[Dieser Artikel erschien in leicht anderer Form und unter dem Titel „Wahre Ängste und falsche Propheten. Die Psychologie sektiererischer Endzeit-Gruppierungen“ 1999 im „Psychoscope. Zeitschrift der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen“, (6), S. 13-16.]

Appendix

 © 1999. Verein infoSekta.

 

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